Mehr ausbrüten, weniger gackern. Andreas Müller
Welt zu erfahren und zu erproben.
Auf einer solchen Reise, so Renate Girmes, »wird er oder sie Fremdes kennen lernen und sich zu eigen machen können, wird neue Freunde und interessante Gesprächspartner finden, mehr wissen, Verständnisse überdenken und revidieren und neue Einsichten gewinnen. (…) In Wirklichkeit ist unterrichtliches Reisen selten so – weil Unterricht selten ›gut‹ ist? Weil man sich als lernbegieriger Unterrichtsreisender nicht selten wie ein Pauschaltourist in einer Reisegruppe von Busgröße mit einem festen gemeinsamen Besichtigungsprogramm und den dazu passenden Standarderläuterungen wiederfindet, immer zusammen als Gruppe, orientiert am jeweiligen Busparkplatz und den Hauptsehenswürdigkeiten?« (Girmes 2004). Kommt dazu: Reiseführer, die schon zum hundertsten Mal gelangweilten Gruppen von Pauschaltouristen die gleichen Geschichten und Jahrzahlen heruntergespult haben, laufen mit der Zeit Gefahr, die Inspiration zu verlieren. Davor sind auch die schulischen Reiseführer nicht gefeit. Zumal die Kinder und Jugendlichen mit immer vielfältigeren und divergierenderen Ansprüchen zum Unterrichtskonsum erscheinen.
Die Pädagogik hat – zumindest begrifflich — eine lange Tradition. Nicht ganz so weit in die Geschichte zurück reicht das Schulsystem, das mit diesem Begriff operiert. Aber immerhin. Anderthalb Jahrhunderte hat die Volksschule auch schon auf dem Buckel. Sie hat in dieser Zeit reichlich Fett angesetzt. Und sie funktioniert deshalb im Kern noch immer nach den gleichen Mustern: Jahrgangsklassen, Lektionen, Fächer, Prüfungen …
Die damaligen Ideen für die Gestaltung des Schulwesens entsprangen dem damaligen Denken und orientierten sich an den damaligen Bedürfnissen. Und man muss nicht hundertfünfzig Jahre alt sein, um festzustellen, dass sich einiges verändert hat in Gesellschaft und Wirtschaft. Radikal verändert sogar. Das müsste eigentlich Anlass genug sein, die Schule ähnlich radikal zu verändern. Und das hieße dann eben beispielsweise: von der Pädagogik zur Autagogik.
Zehn Merkmale der Volksschule des 19. Jahrhunderts
nach J.C. Hirzel, 1829(!)
1. Unterrichtsfächer
2. Lehrstoff und Lehrmittel
3. Jahrgangsklassen
4. Klassengröße
5. Stundenplan
6. Lehrerausbildung
7. Jahresbesoldung
8. Prüfungen
9. Lehrerwahl und -entlassung
10. Schulaufsicht
Megatrends
Der Blick aus dem Schulhausfenster zeigt: Aha, da passiert etwas in der »richtigen« Welt. Wenn die Schule nicht den Anschluss verpassen will, muss sie erst einmal lernen, mit Veränderungen umzugehen. Denn im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft hat sie in dieser Beziehung keine Tradition. Keine Übung. Klar standen immer irgendwelche »Reformen« ins Haus. Passiert ist zwar nicht wirklich etwas. Dafür hat sich eine veritable Aufregungskultur entwickelt. Kurzatmig, in hektischem Aktionismus wird reformiert, was das Zeug hält.
Ein neues Zeugnisformat, eine Wochenlektion mehr oder weniger, die Einführung von Blockzeiten, solche und ähnliche Dinge lösen Diskussionen aus, und alle laufen wie aufgescheuchte Hühner durchs Gehege, als ob es tatsächlich um etwas gehen würde. Von wegen: Das sind bei Lichte besehen doch Peanuts. Marginalien. Die Änderungen, die eigentlich anstehen würden, die sind viel grundsätzlicher. Und die gingen ans Eingemachte.
Im Wesentlichen sind vier Megatrends (Trend = Grundtendenz, Richtung, in die eine Entwicklung geht) zu erkennen. Sie fordern das Bildungswesen heute und in Zukunft heraus. Kosmetik reicht dabei nicht mehr. Herkömmliche Strukturen, Konventionen und Rollenbilder müssen viel radikaler in Frage gestellt werden.
Großes Gegacker mit Riesenwirbel, wenn eine Reform die Bühne betritt. Keine Idee, wie die Reform umgesetzt werden könnte, sondern nur, warum sie nicht funktioniert. Meist legt sich die Aufregung dann bald wieder und alles ist wie vorher.
Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß. Hartmut von Hentig
❶ Geschlossene Marschkolonnen auflösen
Die Sozialisierungshintergründe von Kindern und Jugendlichen weichen zunehmend voneinander ab. Es beschränkt sich nicht auf die offenkundigen kulturellen und ethnischen Unterschiede. Die Lebensgewohnheiten haben sich insgesamt grundlegend verändert. Andere Menschen waren zwar schon immer eines: anders. Aber heute sind sie noch deutlich »anderser«. Das Stichwort »Heterogenität« prägt denn auch allerorts die schulischen Diskussionen – meist in Kombination mit dem Wort »Problem«. Und in der Tat: Die Schule ist herausgefordert, mit dieser Diversität gescheit umzugehen. Das heißt beispielsweise: Es geht nicht einfach darum zu akzeptieren, dass Lernende unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, unterschiedliche Vorstellungen, unterschiedliche Ziele. Es geht auch darum, diese Unterschiede als Chance und Ressource zu nutzen. Und wenn man nur ein bisschen ernst nimmt, was man heute so weiß über unterschiedliche Lernvoraussetzungen, dann müsste das erhebliche Konsequenzen haben. Ein einigermaßen gesunder Menschenverstand reicht um zu erkennen, dass die geschlossenen Marschkolonnen in den tradierten Strukturen immer weniger tauglich sind, mit der zunehmenden Vielfalt konstruktiv und Sinn stiftend umzugehen.
❷ Mehr Sprachigkeit
Konstruktiv mit Vielfalt umgehen, das heißt in erster Linie mit einer Vielfalt von Menschen. Es heißt aber ebenso: mit einer Vielfalt von Dingen, mit einer allgemeinen und fast uneingeschränkten Verfügbarkeit. Das heißt: Immer mehr geht es auch darum, Mengen zu bewältigen. Dazu gehört unter anderem auch die Menge an Informationen.
Die Schleusen der globalen Informationskanäle stehen sperrangelweit offen. Pausenlos dringen Datenfluten in die hintersten Winkel der Welt. Sich darin zurechtzufinden ist ähnlich einfach, wie aus einem voll geöffneten Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken. Die Schule muss Lernende deshalb befähigen, dieses permanente Wildwasser der Information für sich zu bändigen. Viele Grenzen lösen sich auf. Nicht nur die politischen. Auch die Grenzen der Sprachen verschwinden im Staub der Völkerwanderungen. Was heißt beispielsweise heute »Muttersprache« in einer durchschnittlichen Schulklasse in einem durchschnittlichen Dorf? Deutsch? Das war einmal. Mehrsprachigkeit ist nicht einfach Thema bildungspolitischer Sonntagsreden, es ist eine schulpraktische Realität. Die Menge an Sprache und die Menge an Sprachen, damit gescheit umgehen zu können, das will gelernt sein.
Mehrsprachigkeit verlangt sozusagen nach mehr Sprachigkeit. Verbalisierungs- und Visualisierungsfähigkeit sind Motor und Treibstoff zugleich, um das Boot des eigenen Denkens geschickt durch die Hochwassergebiete der Informationen zu manövrieren und sichere Ankerstellen zu finden.
»Ich wanderte im Land umher und suchte Antworten auf Dinge, die ich nicht verstand Warum sich Muscheln auf den Berggipfeln finden, zusammen mit Abdrücken von Korallen und Pflanzen und Meeresalgen, die für gewöhnlich im Meer vorkommen. Warum der Donner eine längere Zeit dauert als das, was ihn verursacht, und warum der Blitz dem Auge unmittelbar nach dem Zeitpunkt seiner Erzeugung sichtbar wird, während der Donner hundertmal länger für seinen Weg braucht. Wie die verschiedenen Kreise im Wasser sich um die Stelle formen, die von einem Stein getroffen wurde, und warum sich ein Vogel in der Luft hält. Diese Fragen und andere merkwürdige Phänomene haben mein Denken während meines ganzen Lebens beschäftigt.«
Leonardo da Vinci