Share. Michael Weger

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dreißig Staaten ihre neue Heimat in den Häuserblocks um die Piazza gefunden. Zwar kam es vereinzelt noch immer zu Zusammenstößen, doch waren, nach Jahren der Bemühung, sogar zwischen ehemals radikalen Gruppen Freundschaften entstanden. Das Verbindende überwog, am Ende des Tages und an diesem Ort, scheinbar doch das Trennende.

      Amid wich all die Stunden nicht mehr von ihrer Seite. Auch als Jana ihn kurz vor Mittag in die Küche schicken wollte, um seinen Dienst zu verrichten, beharrte er darauf, die beiden weiterhin zu begleiten. Claire hatte es ihm offensichtlich angetan.

      Jana gab in der Küche Bescheid und so folgte Amid ihnen zu ihrem nächsten Gespräch mit einer indischen Ärztin.

      „Namasté, Jana. Hello, Amid. Here again?“ Sie strahlte übers ganze Gesicht und begrüßte auch Claire mit der üblichen Verbeugung und gefalteten Händen.

      „Dharia ist eine unserer Besten“, erklärte Jana auf Englisch. „Sie arbeitet von früh bis spät und war maßgeblich daran beteiligt, unser Gesundheitssystem wieder aufzubauen. Auch die neuen Vorsorgeuntersuchungen liegen in ihren erfahrenen Händen. Amid hat gestern beinah seinen Termin verpasst.“ Sie wies mit erhobenem Zeigefinger in Richtung des Jungen, der sich schuldbewusst erinnerte und etwas erwidern wollte, doch Jana sprach schon weiter:

      „Die medizinische Versorgung war lange Zeit ein Problem. Nach den massiven Wellen der Flüchtlingsströme, vor fünf Jahren, kam das gesamte Sozialsystem zum Erliegen. Und mit der großen Welle, im Jahr darauf, führte das schließlich zum Kollaps. Die Seuchen griffen um sich. Eine Eindämmung schien unmöglich. Hätten sich uns damals nicht alle immigrierten Ärzte aufopfernd angeschlossen, wäre auch dieser Stadtteil bereits ausgestorben. Oder unser kleiner Distrikt gliche den Vororten der Stadt oder, noch schlimmer, dem Kolosseum, das einst als erste Anlaufstation für Tausende Emigranten gedacht war und nunmehr zum Auffanglager der Ärmsten unter den Armen verkommen ist.“ Sie blickte traurig in eine Ferne, die wohl in Richtung des Amphitheaters lag, schüttelte den Gedanken aber ab und fuhr fort: „Dharia war von der ersten Stunde an vorderster Front dabei. Ohne sie stünde ich selbst jetzt nicht hier. Mich hat damals eine schwere Infektion erwischt. Es war so schlimm, dass ich fast schon bereit war, meinen Vater einzuschalten, und das wollte ich ihm und mir wirklich nicht antun. Doch Dharia konnte mir schließlich helfen und hat mir das Leben gerettet.“

      „Du übertreibst“, sagte Dharia höflich, „mit deinem Lebenswillen und deiner Kraft hättest du noch viel Schlimmeres überlebt“, und schelmisch fügte sie hinzu: „Oder wie sagt man bei euch? Wildes Kraut vergeht nicht?“ Claire stellte lachend fest, dass die Assimilierung wohl auf vielerlei Arten stattgefunden hatte.

      Zum Mittagessen wurde sie in einen großen Speisesaal geführt, der bei ihrem Eintreffen bereits mit Menschen gefüllt war. An der Essensausgabe hatte sich eine Schlange von Menschen gebildet, die jedoch zügig voranschritten. Es schien alles gut organisiert und reibungslos zu funktionieren.

      Jana erklärte, dass hier nicht nur ein Großteil der ansässigen Bevölkerung verköstigt wurde, sondern dass neben dem medizinischen Personal auch die Lehrer, Dolmetscher und anderen Hilfskräfte der umliegenden Verbände jeden Mittag zusammenkamen. Beim gemeinsamen Essen tauschten sie sich dann täglich über die jüngsten Vorkommnisse und Fortschritte aus. Sie wies mit dem Finger auf eine der langen Tischreihen im hinteren Bereich des Saales, an dem sich ein buntes Gemisch von Menschen unterschiedlichster Hautfarben und Mentalitäten eingefunden hatte. Sie lachten, sprachen aufeinander ein, gestikulierten, während andere in ihr Essen vertieft schienen, nur beiläufig zuhörten oder amüsiert die Diskussionen beobachteten.

      Mit ihren Tellern gesellte sich die Dreiergruppe zu ihnen und nachdem Jana die allen bekannte Journalistin vorgestellt hatte, stürmten Fragen und Erzählungen auf Claire ein, dass ihr nach kürzester Zeit der Kopf schwirrte.

      Nach dem Essen ging die Tour weiter. Jana führte sie zu alten Schulgebäuden, durch pittoreske Hinterhöfe und wild wuchernde Gemüsegärten, in enge Gassen mit Geschäften voll Kunsthandwerk bis hin zu einem kleinen Marktplatz.

      Amid lief immer noch an Claires Seite und als sie den Platz betraten, musste sie zum wiederholten Mal über eine seiner klugen Bemerkungen lachen. Für einen Moment blieb ihr Blick dabei in seinen großen dunklen Augen gefangen. Ein Funke Glück fuhr ihr durchs Herz und ließ sie augenblicklich an Ajan denken.

      Im selben Moment wurde ihr bewusst, welchen Platz sie betreten hatten. Auch wenn das Tageslicht ihn um vieles größer erscheinen ließ, gab es keinen Zweifel. Sie drehte sich suchend um und erblickte wenige Meter entfernt den verlassenen Marktstand des Bauern mit dem Brunnen davor. Der dunkle Flecken vertrockneten Blutes auf den Pflastersteinen war mit Sägemehl überdeckt worden. Je dunkler das Rot, desto mehr Blut wird vergossen. Ihr Vater war ihr mit einem Mal vor Augen, als würde er dort an der Seite des Blutes stehen und vorwurfsvoll zu Claire herübersehen.

      Jana war Claires Veränderung aufgefallen und folgte ihren Blicken.

      „Geht es dir gut? Du siehst aus, als wäre dir ein Gespenst begegnet!“ Jana nahm ihre Hand. „Hier ist gestern Nacht etwas Schreckliches geschehen. Ein Mädchen wurde getötet“, sagte Claire tonlos.

      „Man hat mir davon erzählt. Doch woher weißt du?“

      „Ich habe es gesehen. Zufällig.“

      „Und auch den Täter?“

      „Es war der Mann, dem dieser Stand dort gehört.“

      „Bist du dir sicher?“

      Claire nickte stumm.

      „Warte hier. Amid, pass auf unsere Freundin auf. Ich komme bald wieder, muss mit ein paar Leuten reden.“ Jana verließ die beiden. Amid hatte Claire wieder an der Hand genommen und stand ruhig neben ihr. Er sah zu ihr hoch, sah die Tränen in ihren Augen und wurde in diesem Moment mit ihr traurig. Jana hatte er schon viele Jahre fest in sein Herz geschlossen, doch hatte es damals lange gedauert, bis er dazu bereit gewesen war. Bei Claire war es etwas anderes. Er musste keine Brücke überschreiten, um sein Herz an ihres zu binden. Sie war mit ihm und er mit ihr, vom ersten Augenblick an.

      „Come. With me.“ Er nickte ihr zu und zog sie weg von dem Platz in den Eingang eines alten Hauses. Das düstere Gewölbe roch nach Schimmel und feuchter Erde. Die Temperatur fiel mit jedem Schritt, den Amid sie nun tiefer ins Innere des Gebäudes führte. Mit dem Fuß stieß er eine verfallene Holztür auf und wollte weiter über eine Steintreppe, die nach unten führte.

      Claire sträubte sich, doch der Kleine ließ nicht locker, zog sie die Stufen hinab, hinein in einen engen, niedrigen Bogengang, in dem nach wenigen Schritten völlige Dunkelheit herrschte. Amid kannte das Gewölbe scheinbar wie seine Westentasche und schritt weiter voran. Ein Lichtschimmer fiel durch einen Schacht auf den staubigen Boden und erhellte auch die nächste Treppe, in die der Gang mündete. Sie stiegen noch tiefer. Claire spürte Amids Hand, tastete mit den Fußspitzen den Stufen nach und folgte ihm wie in einem Traum, dessen Bilder in Blut gefärbt waren und der ihr den Jungen plötzlich in den Armen einer ihr fremden Frau zeigte, beide über den toten Körper eines Mannes gebeugt, tränenüberströmt, geschunden, verloren. Sie versuchte, die Bilder loszuwerden, fiel auf die Knie, raffte sich auf, stolperte weiter und wäre wenige Schritte später beinah in eine, plötzlich vor ihnen auftauchende, Wasserfläche gestürzt. Doch Amid hatte schon seine Arme um ihre Taille geschlungen und hielt sie nun mit aller Kraft fest, die er aufbringen konnte.

      Claire kam völlig außer Atem vornübergebeugt zum Stehen. Sie sah ihr Spiegelbild unter sich auf der ruhigen Oberfläche des hellgrün schimmernden Wassers und darunter, tief am Grund, eine alte Barke, deren gebogene, mit Tang umhüllten Rumpfhölzer im bewegten Licht sanfter Wellen ihr Gesicht umrahmten. Sie hielt inne. Neigte ihren Kopf, ganz leicht, um den Rahmen nicht zu verlassen und beinahe, als wollte sie sich einmal wieder an die Schulter ihrer Mutter lehnen. Einmal wieder. Nur einmal noch …

      Sie drehte sich zu Amid um, umarmte den kleinen Körper innig und fühlte mit einem Mal, wie ganz still und ohne, dass sie hätte ahnen können, warum, das Bild sich zu wenden begann. Für einen seligen Augenblick lang war sie nun die Mutter, die das verlassene Kind umarmte.

      Lange standen


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