Segel setzen (E-Book). Astrid Warbinek

Segel setzen (E-Book) - Astrid Warbinek


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ebenso wirksam wie ein entwickeltes Verständnis geteilter Verantwortung: Jeder und jede ist Teil einer Gemeinschaft und trägt zu deren Gelingen bei. Um die Mannschaft anzusprechen und erreichen zu können, brauchen Kapitäninnen und Kapitäne trainierte Gesprächsführungstechniken und die Bereitschaft, durch Rückmeldungen zu lernen. Nochmals: Auf einem Segelschiff braucht es zwingend ein Verständnis für ein systemisches Zusammenwirken; niemand ist für alles allein verantwortlich, es sind immer die Wechselwirkungen, die für das Gelingen ausschlaggebend sind.

      Vermutlich haben Sie unsere Schiffsmetapher längst nachvollzogen: Als Lehrkraft sind Sie selbst die Kapitänin oder der Kapitän. Sie übernehmen die (Klassen-)Führung und setzten damit die Segel für einen wirksamen Unterricht. Führungsverantwortung folgt eigenen Werten und bedeutet Reflexion des persönlichen Führungsstils. «Klassenführung» verstehen wir also wörtlich als Führungsqualität. Die Leitgedanken unseres Buches dienen wie ein Kompass der besseren Orientierung. Einzelne Segel im Fahrtwind des Unterrichts stehen für die Gestaltung der Gruppe, des Raums und der Lernsituation; im präventiven Gestalten liegt mehr Kraft als in der Intervention im Nachgang zur Handlung von Schülerinnen und Schülern. Zusätzliche Orientierung erfolgt durch ein zweites Steuerungsinstrument, nämlich den Sextanten. Er versinnbildlicht die Ausrichtung in Bezug auf die Selbstregulation von Schülerinnen und Schülern. Ihre Unterstützung darin ist zentral und von großem Einfluss auf eine gelingende Klassenführung.

      Segel lassen sich hissen oder auch reffen – als Reaktion auf aktuelle Umwelteinflüsse und Wetterbedingungen oder in der Absicht, die Route selbst zu bestimmen. Kompass und Sextant werden Ihnen helfen, die Lage zu erkennen und voraussehend zu handeln. Instrumente dienen Ihnen besser als fertige Rezepte, wie man sie in marktüblichen Ratgebern findet. Ein Rezept kann kurzzeitig durchaus sehr wirkungsvoll sein. Aber auf Dauer ist Nachahmen nicht zielführend, das haben Sie bestimmt selbst schon erfahren. Wir möchten Sie lieber zur Reflexion Ihrer tagtäglichen eigenen Führungstätigkeit in Ihren Klassen anregen und Ihnen Gedanken ermöglichen über eine eigene Ausgestaltung der mit den Schülerinnen und Schülern angestrebten Ziele. Sie werden souverän darin werden, die Segel auszurichten, Stürmen zu trotzen, Flauten zu überbrücken und den Kurs zu halten.

      Frau Hansen aus dem Beispiel am Anfang dieses Kapitels könnte Ihre Kollegin sein. Wir möchten Sie anregen, mit Ihren Teammitgliedern im Austausch zu bleiben und die Segel aller Schiffe im Kollegium gleich auszurichten. Das wird sich für alle lohnen. Denn stellen Sie sich einmal vor, was es für die Schülerinnen und Schüler bedeutet, nach jeder Unterrichtsstunde auf ein anderes Schiff umzusteigen. Hier gibt es eine Befehlskultur wie auf der Bounty, dort führt die Kapitänin demokratisch. Einmal gleitet das Schiff durch ruhige Gewässer, ein anderes Schiff läuft trotz Gewitterwarnung aus. Was verlangen wir von unseren Schülerinnen und Schülern, wenn wir unreflektiert davon ausgehen, dass sie anpassungsfähig sind und mit jedem Führungsstil zurechtkommen? Wie geht es uns selbst damit, bei Fortbildungen zum Beispiel? Achten wir nicht sehr genau darauf, dass wir unsere Wünsche und Vorstellungen einbringen dürfen, dass wir unterstützt werden? Erst bei spürbarem Wohlwollen öffnen wir uns für anregende Ideen. Gegen das Gefühl, belehrt zu werden, verschließen wir uns. Nur dank unserer eigenen hochtrainierten Selbstregulation enthalten wir uns störender Aktionen – wobei: Wer schon einmal Lehrkräfte fortgebildet hat, weiß, dass sie sich in der Gruppe eigentlich genauso verhalten wie ihre Schülerinnen und Schüler. Sie können meutern. Solche Reaktionen sind die logische Konsequenz von nicht bewusst und nicht konstruktiv eingesetzter Führung. Damit sie in den Klassen ausbleiben, braucht es neben einer guten Führung und Selbstregulation auch ein gemeinsames Ganzes: einen tragfähigen und umgesetzten, auf grundlegenden pädagogischen Entscheidungen basierenden Konsens.

      Wir bleiben der nautischen Metaphorik im ganzen Buch treu. Es ist so aufgebaut, dass auf diese Reisevorbereitung im Teil «Vor der Reise» mit Einleitung (Kapitel 1) und einführendem Kapitel (2) im Teil «Segel setzen» ein Hauptkapitel zu Klassenführung (Kompass; Kapitel 3) und eins zur Selbstregulation (Sextant; Kapitel 4) folgen. Die beiden Kapitel enthalten Grundlagen sowie konkrete Anregungen für den Unterricht. Nach ihrer Lektüre und Bearbeitung werden Sie eine klare Sicht auf Ihr Reiseziel haben und die beiden Instrumente in ihrer Funktionsweise verstehen und selbst bedienen können.

      Im Teil «Mit der Flotte auf Kurs», dem dritten Teil des Buches, liegt der Fokus nicht mehr auf einem einzelnen zu steuernden Schiff und seinen Segeln, sondern auf der ganzen Flotte: auf dem System Schule. Wir erläutern die Grundlagen und schulische Anwendung des Konzepts der fünf Dimensionen einer lernenden Organisation (Kapitel 5). Damit sind alle angesprochen, die zum System gehören und es mitgestalten, in erster Linie Schulleiterinnen und Schulleiter, aber natürlich auch Lehrkräfte. Erfahrungsberichte verschiedener Schulentwicklungsprozesse an unterschiedlichen Schulen runden das Buch ab.

      Die Kapitel enthalten viel Hintergrundinformation, aber auch zahlreiche Angebote zur Reflexion über das eigene Tun. Uns ist die Selbstregulation der Lehrkräfte genauso ein Anliegen wie jene der Schülerinnen und Schüler. Sie wissen als Lernexpertin oder -experte selbst, dass «gehört» nicht automatisch «(ein-)verstanden» bedeutet, dass es eines längeren Reflexionsprozesses bedarf, um herauszufinden, womit man wie einverstanden ist und was man davon in welcher Form umsetzen möchte. Darauf nehmen wir Rücksicht, wenn wir die Reiserouten ausschildern. Sie finden unterwegs immer wieder Gelegenheit, Ihre eigene Unterrichtssituation zu reflektieren und Ihre Handlungsmöglichkeiten bei der Lektüre dieses Buches zu erweitern.

      2Einführung

      Um erfolgreich lernen zu können, brauchen Schülerinnen und Schüler Führungskräfte, die sich als solche definieren und reflektieren und auch den Unterschied zwischen Klassenführung und Klassenleitung kennen. Eine überlegte Klassenführung wirkt sich positiv auf Ihre Gesundheit aus. Die Auseinandersetzung damit dient sowohl der eigenen Kompetenzentwicklung als auch der Entwicklung der gesamten Schule.

      «Unterricht» und «Klasse» sind zentrale Begriffe in diesem Buch. Unter Ersterem verstehen wir alle Formen lehrergeleiteten Lernens, also offene Formen genauso wie das Unterrichtsgespräch. «Klasse» bezieht sich auf den konventionellen Verband von Schülerinnen und Schülern, aber auch auf andere Gruppen von Lernenden.

      Vielen Lehrkräften fällt es noch immer schwer, im Zusammenhang mit Schule und Unterricht von «Führung» zu sprechen. Sie umgehen den Begriff durch Formulierungen wie «Ich unterrichte in dieser Klasse», «Ich bin (nicht) Klassenlehrerin in dieser Klasse» oder «Ich gebe die Regeln vor». Wir halten die Begriffsanleihe aus der Wirtschaftswelt für die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Unterricht für hilfreich. Wenn sich eine Lehrkraft nämlich als Führungskraft versteht, kann sie eine eindeutige Rollenklärung und eine vertiefte Reflexion über ihr Führungshandeln vornehmen und in dieser Selbstbewusstheit vor die Klasse treten und selbst-bewusst handeln.

      Vielleicht kennen Sie die Situation, dass sich eine Fachlehrkraft, die in «Ihrer» Klasse unterrichtet, hilfesuchend an Sie als Klassenlehrkraft wendet: «Deine Klasse war ja heute mal wieder … ! Das musst du unbedingt ändern.» Wie soll eine während der Unterrichtsstunde gar nicht anwesende Klassenlehrkraft für Ruhe und einen reibungslosen Ablauf von Stunden der Kolleginnen und Kollegen sorgen und die vermeintlich fehlende Disziplin regeln? Das geht nicht und ist auch nicht Ihre Aufgabe. Als Klassenlehrerin oder Klassenlehrer obliegt Ihnen zwar die Verantwortung für die Organisation und Betreuung der Klasse. Das ist die Klassenleitung. Wir grenzen sie klar von der Klassenführung ab. Diese dürfen und müssen Sie annehmen und gestalten, ob Sie die Klassenleitung innehaben oder nicht; sie ist die Aufgabe jeder einzelnen Lehrkraft,


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