Liebesbrief an Unbekannt. Thomas Brezina
Sie musste ihn noch in Nells Büro liegen haben.
»Wo ist Nell hin? Und wieso steht der Spiegel verkehrt?« Er deutete auf den Wandspiegel in der Diele, den Emma vom Haken genommen hatte, damit sie sich nicht mehr darin ansehen konnte.
»Sie trampt durch Afrika. Ohne Handy und Laptop.« Zu Emma hatte sie auch gesagt, dass sie eine »neue Ebene der Erkenntnis und Tiefe des Bewusstseins« erreichen wollte. Aber das hielt Emma nicht für erwähnenswert.
Henry Drummer musterte Emma noch immer kritisch. Deshalb fügte Emma hinzu: »Nell ist meine Tante und wie gesagt, sie hat mir alles hier übergeben.«
»So, so, alles übergeben«, hörte sie ihn leise sagen. »Dann ist es ja gut.« Seine Haare waren gefärbt und schimmerten unnatürlich schwarz im Licht der Deckenlampe. Der weiße Nachwuchs war an den Wurzeln zu sehen.
Emma fiel ein, dass keines der Zimmer hergerichtet war, in allen lagen Kissen und Decken ohne Überzüge herum. Staubsaugen und Fensterputzen hatte Emma für den Freitag eingeplant gehabt, da sie nur zwei Buchungen für das Wochenende hatte. Der unerwartete Gast kam ihr allerdings sehr gelegen, da sie das Geld brauchte.
»Ich… bereite schnell alles vor«, sagte sie und verstellte Mr. Drummer den Weg nach oben. Sie stand wie ein Wachhund am Fuße der Treppe und streckte die Arme zur Seite. »Machen Sie es sich doch im Wohnzimmer bequem.«
»Hat Nell gesagt, was mein Zimmerpreis ist und was alles inkludiert ist?«
Emma versuchte sich zu erinnern, ob ihre Tante etwas erwähnt hatte. Sie hatte Emma mit Informationen und Ermahnungen überschüttet, und ab einem gewissen Zeitpunkt hatte Emma einfach nicht mehr zugehört.
»Sie hat mir alles aufgeschrieben. Bevor ich nachsehe, eine Frage: Haben Sie ein Lieblingszimmer hier?«
»Nummer vier. Wie immer.«
Nummer vier war ein Doppelzimmer in den Hof mit einem kleinen Bad. Das Bett war riesig, mit einem mächtigen Haupt aus dunkelbraunem Holz, die Matratze durchgelegen, und Emma hatte, als sie sich einmal spaßhalber darauf geworfen hatte, das Gefühl, vom Bett verschlungen zu werden.
Sie deutete auf die offene Tür zum Wohnzimmer. »Wenn Sie es sich kurz bequem machen?«
»Bequem?« Drummer hustete verächtlich. »Ich muss arbeiten. Morgen besuche ich sechs Kundinnen.«
Zu Emmas Erleichterung ging er mit seinem Köfferchen dann doch in das Wohnzimmer, und sie schloss die Tür hinter ihm. Als Erstes lief sie in das Büro und suchte den kleinen Sekretär ab, der an der Wand stand, konnte aber dort die Post nicht finden.
Sie riss ihre Kapuzenjacke von dem Stuhl in der Ecke, und darunter lagen die Umschläge, auf die sie ihren Brief beim Lucky Beach geschrieben hatte. Emma blätterte sie durch und zog das längliche Kuvert heraus, das einen schwarzen Firmenaufdruck mit dem Wortlaut: Drummers Ewiger Friede trug.
Nell besaß einen Brieföffner mit Marmorgriff. Schnell schlitzte Emma den Brief auf und zog das gefaltete Blatt heraus. Es war mit der Hand geschrieben.
Ich werde am 11. Mai etwas später als sonst eintreffen und zwei Nächte bleiben. Alles wie üblich, wenn ich bitten darf.
Was meinte er mit »wie üblich«? Wollte er mehr Kissen in seinem Bett oder spezielles Brot für das Frühstück?
Emma lief in den ersten Stock, stürmte in Zimmer vier und schob als Erstes das Fenster nach oben. Die Luft im Raum war muffig und feucht, Lüften dringend nötig. Im Schrank fand sie Überzüge für die gigantische Decke und die dicken Kissen. Sie kämpfte mit dem Laken und stopfte Kissen und Decke einfach so gut es ging in die klammen Überzüge. Noch ein kleines und ein großes Handtuch ins Bad an den Haken, dann war das Zimmer fertig.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Henry Drummer dort das getan, was er wohl unter »wohlfühlen« verstand. Sämtliche Sitzmöbel und der niedere Couchtisch waren mit Mappen übersät. Jede Mappe trug einen Namen, geschrieben in geschwungener Handschrift.
»Das Zimmer ist bereit. Ich helfe Ihnen rauftragen«, bot Emma an.
»Meine Unterlagen bleiben hier, wie immer.« Drummer nahm den kleinen Koffer und sah sie streng an. »Nichts anfassen, es ist alles genau geordnet.«
Er schritt an Emma vorbei zur Treppe. Auf der dritten Stufe blieb er stehen und drehte sich zu ihr. »Wie üblich, nicht wahr?«
In Emmas Kopf klingelte eine alte Registrierkassa. Zufriedener Gast, gutes Geld, vielleicht sogar ein Trinkgeld. Also lächelte sie künstlich und versicherte ihm, dass ihr Service dem von Nell natürlich um nichts nachstand. Henry Drummer nickte zufrieden und setzte den Weg nach oben fort.
Emma verschwand im Arbeitszimmer und öffnete Nells Laptop. Sie suchte in den wenigen Ordnern nach Aufzeichnungen über die Gäste, konnte aber nichts finden. Normalerweise buchten Gäste über die Homepage, aber auch dort gab es im Archiv keine Notiz über Mr. Drummer. Die letzte Hoffnung waren die E-Mails, doch keines stammte von Drummer. Er schien immer Briefe zu schicken.
Hektisch durchsuchte Emma alle Laden des Schreibtisches und den schmalen Wandschrank mit den Ordnern. Frühere Post von Henry Drummer war nicht zu finden.
Was konnte Nell diesem Gast geboten haben? Emma klappte ihren Laptop auf und googelte Drummer Ewiger Friede. Es gab keine Homepage, aber in einer lokalen Zeitung einen kleinen Bericht über ihn. Er hatte es zum Geschäftsmodell gemacht, alte, alleinstehende Damen zu betreuen und ihnen zu Lebzeiten bereits das perfekte Begräbnis zu verkaufen. Außerdem garantierte er, wenn gewünscht und nötig, ihr Erbe abzuwickeln, für ihr Haustier einen neuen Platz zu finden und trauernde Freunde zu trösten. Er tat das auf betont altmodische Art und Weise, ohne E-Mails, nur mit handschriftlichen Briefen, und wollte auf diese Weise Vertrauen erzeugen.
Was für ein ungewöhnlicher, schrulliger, aber auch stilvoller Mann, dachte Emma. Wahrscheinlich brauchte er spezielle Mahlzeiten, oder Nell hatte ihm die weißen Hemden gebügelt. Emma beschloss, an seiner Zimmertür zu klopfen und ihn vorsichtig zu fragen.
Sie hatte den Fuß auf die erste Stufe der Treppe gesetzt, als wieder der Türgong ertönte. Emma warf einen Blick durch den Spion und zuckte zusammen.
Draußen leuchteten Erics rote Haare im Schein der Lampe über dem Eingang. Er hielt etwas in der Hand, das wie eine Weinflasche aussah.
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