Liebesbrief an Unbekannt. Thomas Brezina

Liebesbrief an Unbekannt - Thomas Brezina


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selbst

      Dir

      Allem, was ich anfasse.

      Weißt du, was meine Mutter gesagt hat, einen Tag nach der Katastrophe? Ich habe bei ihr gesessen und war so zerstört, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte.

      »Ich will mich umbringen«, habe ich gesagt.

      Darauf meine Mutter: »Lass das bleiben, denn es geht sicher daneben.«

      Sie war nur mit dem verschwundenen Geld beschäftigt. Ein Wunder, dass sie nicht so weitergeredet hat: »Wenn du dich erschießt, kann ich wahrscheinlich dein Hirn von der Wand waschen. Wahrscheinlich triffst du auch nur den Sehnerv, lebst weiter und bist blind. Wenn du dich erhängst, dann machst du sicher dabei etwas kaputt. Wahrscheinlich reißt der Haken aus der Wand und hinterlässt ein Loch. Wenn du eine Überdosis Schlaftabletten nimmst, kotzt du sicherlich alles voll, und wer muss wieder putzen? Ich!«

      Als Nächstes hätte meine Mutter sicher gesagt: »Wenn du dich vor einen Zug oder die U-Bahn wirfst, verursachst du bestimmt nur einen Unfall, bei dem viele Unschuldige ins Krankenhaus müssen, aber der Zug rollt über dich hinweg und du bleibst unverletzt.«

      Mich lässt das jetzt nicht los, was sie sonst noch hätte sagen können.

      • Wenn ich von einer Klippe springe, ist zwei Meter tiefer ein Felsvorsprung, auf dem ich lande. Von dort muss mich dann die Feuerwehr retten.

      • Wenn ich vom Dach eines Hochhauses springe, dann bestimmt auf einen Balkon.

      • Wenn ich Harakiri begehen will, bricht das Messer ab, weil ich zu viel trainiert habe und meine Bauchmuskeln zu fest sind (nein, meine Mutter würde sicher sagen, das Messer bleibt in meinem Speckbauch stecken).

      Ich frage mich, wann ich in den Augen meiner Eltern eine solche Versagerin geworden bin? Als ich die Schule mehr als gut abgeschlossen habe? Als ich mein Studium, das ich nur ihretwegen gewählt habe, ebenfalls mit Erfolg geschafft habe? Als ich ihnen Philip vorgestellt habe, der damals einfach alles war, was man sich von einem zukünftigen Schwiegersohn erwarten konnte: höflich, gut aussehend, charmant, offenbar professionell in seinem Beruf, wohlhabend. Die Bitterkeit und der Zynismus meiner Mutter waren wie Ohrfeigen für mich, und was sie sagte, klang so, als hätte sie es sich schon lange gedacht.

      Wieso bin ich für sie die große Enttäuschung, und meine kleine Schwester Amelie, die jetzt demnächst zehn Jahre studiert und bis heute nichts von Bedeutung im Leben geschafft hat, ist in ihren Augen der Star?

      Sie haben sie immer mehr gemocht als mich. Immer, immer, immer. Ich habe tun können, was ich wollte (siehe meine Leistungen weiter oben), aber es war nie genug und nie das Richtige.

      Ich bin überhaupt jemand, der es einfach nicht Recht machen kann. Scheinbar niemandem. Ich bin immer zu wenig und zu wenig gut.

      Philip hat einmal mit einem alten Kumpel von der Schule telefoniert und dachte, ich wäre nicht daheim. Aber ich war da und habe jedes Wort gehört. Philip: »Mir ist es wenigstens gelungen, sie von einem schlappen Hering in eine saftige Makrele zu verwandeln.«

      Was er damit meinte, habe ich zuerst nicht verstanden. Natürlich war klar, dass es eine Gemeinheit war, aber damals habe ich mich noch immer an dem Gedanken festgehalten, dass alles doch wieder in Ordnung kommen kann mit ihm und das, was er da sagt, nicht böse gemeint war. Irrtum.

      Philip: »Sie war von Anfang an willig, ich habe nur schnippen müssen, und sie ist ins Bett gehüpft. Oder hat sich in die nächste Toilette ziehen lassen. Wir haben es sogar einmal im Wald getrieben, wo wir Spaziergänger reden gehört haben, so nahe waren sie. Aber sie ist einfach nie richtig abgegangen. Heute ist sie wenigstens ein wenig mehr Schlampe und nicht mehr dieses saubere Mäuschen. Aber sehr viel schärfer ist sie nicht geworden. Dafür weiter willig, und das nützt auch.«

      Ich habe alles gehört und Philip nie zur Rede gestellt. Ich habe mich in der Abstellkammer versteckt und dort eine Stunde gewartet, bis er fort war, damit er nicht herausfand, dass ich gelauscht hatte.

      Seit damals muss ich immer an fettige Makrelen denken, wenn so etwas wie Sex in der Luft liegt. Bisher ist der Sex immer in der Luft geblieben, und er wusste wohl, warum. Um mich macht er einen Bogen.

      In der langen Liste meiner Schwächen ist das Thema Sex im guten Mittelfeld.

      So, jetzt habe ich es dir gesagt, denn ich habe sicher einen Komplex, wenn es doch einmal zur Sache gehen sollte.

      Alles klar, Eric, wenn du dir eine Sexgöttin erwartest, dann bist du bei mir falsch. Vielleicht hast du heute auch nur das einzig Richtige getan, was ich dir schon zu Beginn dieses Briefes geraten habe: Du hast die Flucht ergriffen.

      9

      Kein Selbstmitleid, kein Selbstmitleid«, sagte sich Emma leise vor. Sie hob den Blick und sah Richtung Meer. Dort, wo Wellen und Horizont einander trafen, zogen zwei Lastkähne dahin. Die Lichter der Schiffe verschwammen vor Emmas Augen. Sie bemühte sich nicht einmal, die Tränen zurückzuhalten, weil es nicht mehr möglich war.

      Emma spürte ihr Kinn zittern, spürte die Falten des Weinens, die sich um den Mund bildeten, hörte sich schluchzen und fühlte die Tränen über ihre Wangen rinnen. Ihre Traurigkeit und Verzweiflung, die sie in den vergangenen Tagen ganz gut unter Kontrolle gehabt hatte, brachen aus ihr heraus.

      Wieso schrieb sie diese idiotischen Briefe, die doch nichts halfen und sie nur traurig machten? Sie wollte die Umschläge zerreißen, hielt dann aber inne, weil sie vielleicht zuerst nachsehen sollte, was sie enthielten.

      Sehr unfein zog sie laut durch die Nase auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Sie schnäuzte sich, indem sie immer ein Nasenloch zuhielt und hemmungslos auf den Boden rotzte.

      Es war ohnehin alles egal. Wem sollte sie gefallen? Wie hieß es so schön: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s nachher ungeniert. Sie atmete tief durch und hob die Umschläge ins Licht der Lampen auf der Kaimauer. Sie besah einen Absender nach dem anderen, aber es schien sich nur um Rechnungen zu handeln sowie zwei Sendungen des Stadtamts. Der letzte Umschlag war länglich, und auf der Rückseite stand…

      Emma schloss die Augen, schüttelte kurz den Kopf und öffnete sie wieder.

      Ihr erster Gedanke war: Ich drehe völlig durch.

      Ihr nächster Gedanke war: ein Scherz.

      Ihr dritter Gedanke: Ich bin in ein Wachkoma gefallen und halluziniere.

      Sie drehte den Umschlag langsam um, weil sie sehen wollte, an wen er adressiert war.

      Für Alptraumfrau Emma

      Mit einer hektischen Handbewegung drehte ihn Emma wieder zurück und las noch einmal den Absender:

      Absender:

      Wer-immer-ich-bin

      10

      Patricia hob nicht ab. Emma hatte mindestens zehn Mal die Kurzwahl auf ihrem Handy gedrückt, war aber immer sofort auf Patricias Mobilbox gekommen. Also war das Handy abgeschaltet. Patricia brauchte ihren Schlaf, weil sie sonst untertags nicht genug Konzentration für ihre Arbeit hatte. Kein Wunder, es war kurz nach Mitternacht.

      Sie war die Einzige, mit der Emma jetzt sprechen wollte und konnte. Sie war vom Lucky Beach zurück zu New Steine gerannt und hatte den Brief die ganze Zeit mit beiden Händen gegen ihre Brust gepresst.

      Unten am Strand hatte sie es nicht gewagt, den Brief zu öffnen.

      Wer hatte ihn geschickt?

      Eric? War es Eric gewesen? Aber wieso wusste er von ihrer Schreiberei an den Traummann der Zukunft? Sie hatte keine Silbe darüber gesprochen. Er konnte es nicht wissen.

      Noch ein Versuch, Patricia ans Handy zu bekommen, und wieder hörte Emma nur die Ansage der Mobilbox, die sehr knapp gehalten war.

      »Patricia hier, offen für schöne Neuigkeiten, allergisch gegen alles andere.«

      Es war Patricias privates


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