Liebesbrief an Unbekannt. Thomas Brezina
Oder: »Oh, Henry, lies mir Nietzsche vor, denn das macht mich so an.«
Oder: »Henry, ja, gib’s mir! PHI-LO-SO-PHIE mich! THE-O-RIE mich! THE-O-tiefer! Aaaaaa!«
Ich hoffe, du bekommst ein Bild, wieso die Bücher, die in diesem Haus stehen, mich nicht wirklich begeistern. Denk aber nicht, dass ich nie etwas lese. Ich tue es doch. Aber mehr Krimis oder Romane mit viel Herz und Schmerz, in denen sich die beiden Hauptpersonen am Ende kriegen.
Tante Nell hat mich nach meiner Lieblingslektüre gefragt, ich habe ehrlich geantwortet, und ihre naserümpfende Reaktion war: »Herz-Schmerz-Romane also. Ach ja. Wahrscheinlich als scheinbares Trostpflaster für das, was du im Leben nicht hast. Du flüchtest dich da in eine Scheinwelt, Emma, die ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit gibt. Romane dieser Art sind wie ein Esslöffel Zucker in eine Tasse Tee, weil man denkt, er wäre sonst zu bitter. Solche Romane verkleben den Geist und die Sinne.«
Ach ja, ist das so? Nell fährt voll auf Nietzsche ab. Daher hat sie auch ungefähr zwei Meter Bücher von ihm. Aber ist das nicht der Philosoph, der gesagt haben soll: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht? Der Mann ist entweder auf Dominas gestanden oder aber er war Sadist. In Nells Augen ist er natürlich realer als jeder Liebesroman mit Happy End.
Kein Wunder, dass sie nie verheiratet war und selbst Papa einmal angemerkt hat, seine Schwester hätte bei Männern einen etwas eigenartigen Geschmack.
Ich schreibe dir, den ich nicht kenne, weil ich das Gefühl habe, es tut mir einfach gut.
Ich will dich wirklich nicht zumüllen mit meinem emotionellen Schrott und den Verbänden, die ich auf alle Wunden gelegt habe, die mir in den vergangenen Monaten geschlagen worden sind.
Das klingt sehr dramatisch. In Wahrheit ist die ganze Sache noch wesentlich schlimmer.
Da du diesen Brief nie wirklich lesen wirst, gestehe ich dir etwas, das ich sonst nie aussprechen würde: Als ich vor drei Wochen in Brighton angekommen bin, stand am nächsten Tag in der Zeitung ein Bericht vom Sohn eines Rockstars, der hier lebt. Der Bursche ist im Drogenrausch von den Klippen gesprungen und war tot.
Damals habe ich mir gedacht: Der hat es gut…
2
Emma richtete sich auf. Ihr tat der Rücken weh, weil sie so schief über das Papier gebeugt gesessen hatte. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte im kleinen Arbeitszimmer auf und ab.
Auf dem Regalbrett, zwischen den Ordnern, stand ein gerahmtes Foto der Berge von Salzburg. Es hatte sie schon in das Wohnheim bei der Uni nahe von London begleitete, als sie Tourismus und Hotelmanagement studiert hatte. Das Bild zeigte den Blick aus ihrem Kinderzimmer, und es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie.
Nun war sie also in Brighton gelandet. Emma, studierte Tourismusfachfrau, ziemlich gescheitert, beruflich wie privat, Vertretung für ihre Tante Nell, der das B&B gehörte. Als sie es vor ein paar Wochen von ihr übernommen hatte, ließ Tante Nell wenig Zweifel, dass Emma für sie eine Notlösung war, weil der Nachbar, der es eigentlich hätte leiten sollen, frisch verliebt war und lieber Freizeit wollte.
»Aber jetzt im März und April kommen ohnehin kaum Gäste«, hatte Tante Nell gesagt. »Du kannst dich also einleben.«
Wovon Emma leben sollte, hatte sie nicht gesagt. Keine Gäste hieß nämlich kein Einkommen. Emma war sehr knapp bei Kasse. Die Saison, so hoffte sie wenigstens, würde Ende Mai beginnen, also in zwei oder drei Wochen. Bisher hatte sie aber praktisch keine Reservierungen bekommen.
Genug gegrübelt, entschied sie. Frische Luft würde ihr nun wirklich gut tun. Sie trat aus dem Arbeitszimmer, das gleich neben dem Eingang lag und schlüpfte noch einmal in die blaue Regenjacke aus dem Secondhand-Laden einer Wohltätigkeitsorganisation. Emma nahm die Hausschlüssel aus der Schale auf dem Ablagebrett in der Diele und verließ das Haus.
Auf der obersten Stufe blieb sie stehen und blickte über den länglichen Platz. Sein Name war New Steine, eine seltsame Mischung aus Englisch und Deutsch, die ihr noch keiner hatte erklären können. Die Häuser waren in zwei gegenüberliegenden Zeilen angeordnet, alle mit drei oder vier Stockwerken, einer Kellerwohnung und Dachzimmern. Die meisten waren weiß, dazwischen aber gab es ein blitzblaues und ein pfefferminzgrünes Haus. Das Haus von Emmas Tante Nell war gelb mit weißen Fenstern.
In der Mitte des langen Platzes befand sich ein Streifen Rasen, natürlich eingezäunt und am Abend abgesperrt. Sie hatte als Anrainerin einen Schlüssel.
Die meisten Häuser waren winzige Hotels und wurden von den Besitzern betrieben. Zu dieser Jahreszeit kamen noch nicht so viele Touristen nach Brighton, aber mit Juni fing die Hochsaison an. Emma hoffte auf viele Gäste, da sie Geld verdienen musste.
Die Nacht war windstill. Das war eine willkommene Abwechslung nach den Stürmen der vergangenen Wochen. Für den nächsten Tag war auch schon wieder starker Wind vorhergesagt.
Mehrere Male atmete Emma tief durch und füllte ihre Lungen mit der Meeresluft. Sie stieg die Stufen hinunter und ging nach links Richtung Strand.
Selbst auf der Marine Parade, der Straße, die 25 Meter über dem Strand entlang der Küste verlief, war um diese Tageszeit nicht mehr viel los. Sie musste nur ein paar Autos und ein Motorrad abwarten, dann konnte sie die Straße überqueren. Eine lange Treppe verlief im Zickzack an der steilen Mauer nach unten zum Meer.
Mit der Hand strich sie über das Metallgeländer, das von vielen Lackschichten überzogen war. Es trotzte Salz und Seeluft, aber der Rost kämpfte sich trotzdem durch und mischte sich mit dem gebrochenen Weiß. Emma stieg die steinernen Stufen hinunter und erreichte das Ende der Treppe, das unter Arkaden führte.
Sie mochte diese Stelle nicht sehr. Erstens hing hier immer der Gestank von altem Öl der Fish&Chips-Bude in der Luft, und zweitens war es ein wenig düster. Um schnellstens auf die untere Uferstraße zu gelangen, lief sie los. Am Ende des Handlaufs gab es eine Metallkugel, und aus einer Laune heraus packte Emma sie mit einer Hand, stieß sich ab und wirbelte herum Richtung Meer, so wie sie früher als kleines Mädchen manchmal gesprungen war.
Für eine halbe Sekunde fühlte sie sich so leicht und so befreit wie schon lange nicht mehr. Sie hatte das Gefühl zu fliegen, keinen Boden mehr unter den Schuhen. Die Schwerkraft holte sie schnell wieder zurück nach unten.
Emma landete auf dem Boden, prallte aber gleichzeitig gegen ein Hindernis, das sie dort nicht vermutet hatte. Sie kippte zur Seite und fiel.
Hinter sich hörte sie ein Aufstöhnen. Sie kämpfte sich in die Höhe, aber beim Versuch, mit dem linken Fuß aufzutreten, schoss ihr ein brennender Schmerz durch den Knöchel. Sie musste ihn sich verstaucht haben. Gegen wen oder was war sie da gesprungen?
Als sie sich umdrehte sah sie am Ende der Treppe jemanden stehen. Es war ein Mann in einer Jacke mit aufgestelltem Kragen. Sie konnte nicht viel von ihm erkennen, nur dichtes Haar, das ihm in die Stirn hing, und einen Vollbart. Sein Gesicht lag im Schatten.
»Habe ich Ihnen wehgetan?«, fragte sie stotternd.
»Nicht so schlimm.«
»Das tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«
»Sie sind zum Glück nicht schwer.«
Emmas Tante hatte sie vor Drogensüchtigen und Obdachlosen gewarnt, die hier in der Nacht herumlungerten.
»Sie haben so aufgestöhnt, wenn ich Sie verletzt habe, dann kann ich Sie ins Krankenhaus bringen…« Emma kam näher auf ihn zu.
Schnell drehte der Mann den Kopf weg, als wollte er nicht, dass sie sein Gesicht sah.
»Wirklich kein Problem«, hörte Emma ihn murmeln. Er wandte sich ab, und als er ein paar Schritte machte, konnte Emma sehen, dass er leicht hinkte. Trotz der Schmerzen in ihrem Knöchel humpelte sie ihm hinterher, bis sie auf gleicher Höhe mit ihm war.
»Ich habe Sie wirklich nicht verletzt, oder?«
»Lassen Sie mich in Frieden!« Schroff stieß er sie weg. Emma stolperte erneut, und