Der Spion in meiner Tasche. Helmut Spudich

Der Spion in meiner Tasche - Helmut Spudich


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Martin Cooper aus der Science-Fiction-Serie »Star Trek«, in der Captain Kirk dank seines Communicators quer durch die Galaxie telefonieren kann. Der studierte Elektroingenieur Cooper hatte bei Motorola zuvor Autotelefone gebaut, jetzt wollte er ein Gerät, das Menschen mit sich führen konnten. In nur 90 Tagen entwickelte er 1973 mit seinem Team das erste »Handgerät«, das DynaTAC 8000, ein Kilogramm schwer und mit einer Akkulaufzeit von gerade 20 Minuten. Dennoch war ein kabelloses Mobiltelefon eine Sensation zu einer Zeit, da noch nicht einmal das Schnurlostelefon zum Festnetz erfunden war. »Als wir vor Motorolas New Yorker Büro auf der Straße unseren ersten Anruf machten, blieb den vorübergehenden Passanten der Mund offenstehen«, erinnerte sich Cooper Jahre später in einem Interview. Es dauerte weitere zehn Jahre, ehe das DynaTAC 8000 zu kaufen war und es – zumindest in Städten – ein Funknetz zum Telefonieren gab. Ende der 1980er-Jahre brachte Motorola das MicroTAC heraus, ein Klapphandy ganz in der Art von Kirks Communicator. »Als wir das erste Handgerät auf den Markt brachten, dachten wir schon, dass eines Tages jeder ein Mobiltelefon haben würde. Aber dass dies noch zu unserer Lebenszeit passiert, damit hat keiner bei Motorola gerechnet«, zeigte Cooper noch Jahre später sein Erstaunen über die rasante Entwicklung.

      Ab Mitte der 1990er-Jahre startete Mobilfunk auch in Europa richtig durch. Zwei Umstände bildeten dafür die Grundlage: Erstens der neue Mobilfunkstandard GSM (Global System for Telecommunication), ein einheitlicher digitaler Standard. Und zweitens die »Deregulierung« des Telekom-Marktes in der Europäischen Union, die für lebhafte private Konkurrenz zu den einstigen staatlichen Monopolbetrieben sorgte. Dank GSM wurde es zum ersten Mal möglich, mit einem Handy nicht nur im eigenen Land zu telefonieren, sondern in ganz Europa zu »roamen«, später in den meisten Ländern der Welt.

      GSM brachte den Produzenten von Mobilfunkgeräten einen enormen Vorteil: Sie mussten nicht mehr eine Vielzahl technisch unterschiedlicher Modelle zu hohen Kosten für zersplitterte Märkte erzeugen. Damit sanken die Handypreise rapide und wurden obendrein weitgehend in den monatlichen Gebühren für den Mobilfunkbetreiber versteckt. Für den Mobilfunkmarkt wurde das (scheinbar) um »Null Euro« erhältliche Handy so wichtig wie seinerzeit Fords günstiges Modell T für den automobilen Massenmarkt.

      1995 gab es in Österreich 450.000 Teilnehmer beim (noch) einzigen Anbieter mobilkom austria, Tochter der staatlichen Telekom Austria. 1996 zog mit max.mobil (heute T-Mobile Austria bzw. Magenta) die erste private Konkurrenz ins Land, 1998 folgte One (später Orange, heute in Drei aufgegangen). Schon zur Jahrtausendwende hatte sich die Zahl der Anschlüsse auf 4,64 Millionen verfünffacht, 2005 kam mit 6,83 Millionen Anschlüssen praktisch ein Handy auf jeden Erwachsenen.

      Nicht viel anders war das Bild in Deutschland, wo Mannesmann (später Vodafone), E-Plus (heute Telefónica) und Viag Interkom (wurde o2, gehört heute gleichfalls zur Telefónica) der teilstaatlichen Deutschen Telekom Konkurrenz machten. Von 1995 bis 2005 explodierte die Teilnehmerzahl förmlich, von weniger als vier Millionen auf 80 Millionen Anschlüsse.

      Das Nokia-Jahrzehnt

      Innerhalb eines Jahrzehnts ein Handy in jeder Hand. Mit dieser Revolution unseres Alltags verbinden wir an erster Stelle einen Namen: Nokia. Niemand hatte mit dem biederen Konzern aus Finnland gerechnet, dem damaligen politischen wie industriellen Hinterland Europas mit exotischer Sprache, langen, finsteren Winternächten und dem skurrilen Humor von »Leningrad Cowboys«. Nokia war alles andere als ein High-Tech-Unternehmen. Im 19. Jahrhundert aus einer Papierfabrik am namensgebenden Fluss Nokianvirta entstanden, wurde es im 20. Jahrhundert ein Mischkonzern. Nokia produzierte Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle, Traktor- und Autoreifen und Strom. Erst ab 1975 stellte Nokia Radio- und Fernsehgeräte und ab den 1980er-Jahren Autotelefone her: Das war die unglaubliche Mixtur, aus dem ein Handy-Champion entstehen sollte.

      In einer der radikalsten Wetten auf die Zukunft, die je das Management eines Traditionsunternehmens einging, setzte der visionäre Nokia-Chef Jorma Ollila in den 1980er-Jahren alles auf eine Karte. Er verkauft die verlässliche, aber langweilige Gummi-, Kabel- und TV-Geräteproduktion, die 90 Prozent des Umsatzes ausmachte, und macht Nokia zu der Marke, die zum Weltmarktführer bei Mobiltelefonen werden sollte. Nokia macht und beherrscht den Handyboom: Zur Jahrtausendwende bringt es das legendäre Nokia 3310 heraus, das in fünf Jahren mit 126 Millionen Stück zum populärsten Handy des Nokia-Jahrzehnts wurde.

      Mehr als zehn Jahre vor Apple emotionalisiert Nokia das Handy und macht es zum modischen Accessoire. Individuelle Cover für die Geräte ermöglichen jeder und jedem sein ureigenes Handy. Damit Benutzer ihren persönlichen Talisman oder angeblich strahlenabschirmende Steinchen befestigen konnten, integrieren die Designer eine winzige Schlaufe in der Hülle. Man experimentiert mit Designerstoffen anstatt kaltem Metall, um Handys das Technoide zu nehmen. Aus der Modeindustrie übernimmt der Konzern das Ritual von Frühjahrs- und Herbstkollektionen, die in Cannes, Helsinki, Barcelona, Berlin, London und New York als mediale Spektakel inszeniert werden.

      Mit seinen Innovationen sorgte Nokia dafür, dass es immer öfters einen Grund gab, zum Handy zu greifen. Vom 2-Zeilen- zum 4-Zeilen-Display, von schwarz-weiß zu Farbe, von Textzeilen zu grafischen Displays. Freisprechfunktion, Wecker, Organizer, Vibrationsalarm. Ein eingebautes UKW-Radio und eine Taschenlampe. Dafür verschwindet die Antenne, damit das Handy beim Herausziehen aus der Tasche nicht hängenbleibt. Immer kleiner, immer dünner. Die ersten Datenverbindungen GPRS und EDGE, und mit Mail und »WAP« (Wireless Application Protocol) Babyschritte Richtung Internet. 1996 kam der erste Nokia Communicator heraus, ein vollwertiger Organizer für den Arbeitsalltag, der sogar faxen konnte. Mit der Jahrtausendwende wurden aus den Handys immer öfter Unterhaltungsgeräte: Als MP3-Player, Spielkonsole, Fotoapparat, portabler Fernseher. Mit jedem neuen Feature wurde die Beziehung zu unseren Handys inniger, der Suchtfaktor stärker. Zweijahresverträge mit dem Mobilfunker stellten sicher, dass die neuen Geräte mit ihren neuen Funktionen rasch weite Verbreitung fanden.

      Die neue Freiheit

      Nichts und niemand berühren wir im Laufe eines Tages so oft und zärtlich wie unser Handy. Die »Generation Nokia« erkennt noch heute den Einschaltton, der täglich auf hunderten Millionen Handys überall ertönte. 1994 erklang zum ersten Mal die Bearbeitung einiger Takte eines bis dahin unbekannten Gitarrenstücks von Francisco Tárrega als unverwechselbarer Nokia-Klingelton. In wenigen Jahren wurde er zur bekanntesten Melodie der Welt.

      Lebhafte Erinnerungen an dieses erste Handy zeigen, welche starke Veränderung es im Alltag von Menschen bedeutete. Für junge Leute, deren stundenlange Telefoniergewohnheiten von ihren Oldies mit Argwohn kommentiert wurden, war das erste Handy eine Befreiung. »Bei uns zuhause hieß es immer, fasse dich kurz, vielleicht braucht jemand das Telefon für einen Notfall«, erzählt S. Sogenannte Vierteltelefone waren in Österreich noch in den 1990er-Jahren weit verbreitet – keine Anspielung auf die Weinkultur des Landes, sondern eine Telefonleitung, die sich vier Parteien teilen mussten. Wenn ein Teilnehmer telefonierte, hieß es Pause machen für die anderen drei.

      »Mein Freund schickte mir ein eigenes Handy in die Arbeit. Es war gelb und zum Aufklappen. Ich weiß noch, welche Freiheit das für mich bedeutete.« Freiheit, zuhause nicht mehr auf den freien Anschluss warten zu müssen. Unabhängigkeit, nicht mehr zu genau bestimmten Zeiten Samstagabend am üblichen Platz die Clique zu treffen. Wer später kam, wurde mit Anruf oder SMS verständigt, wo die Freundinnen und Freunde inzwischen waren. Für H. brachte das erste Handy (»ein blaues Nokia 6110«) bei einem Auslandsstudienjahr in London die Freiheit, mit billigen SMS statt den teuren Ferngesprächen vom Münzfernsprecher im Studentenheim mit Freunden und Familie daheim in Kontakt zu bleiben.

      »Mein erstes Handy bekam ich mit 18 zu Weihnachten. Ich wusste, wo die Eltern die Geschenke versteckten und habe es schon davor gefunden«, erinnert sich B. wie alles anfing. »Snake« spielen wurde zur Leidenschaft – ein einfach gestricktes Spiel, das auf Vierzeilen-Displays ohne Grafik und mit Tastensteuerung funktionierte. SMS wurden damals durch schnelles mehrfaches Drücken auf eine Zifferntaste geschrieben, um den gewünschten Buchstaben zu erzeugen (für jüngere Leserinnen und Leser: das Touch-Tastenfeld auf Smartphones zeigt noch heute die Buchstaben an, mit denen jede Ziffer verbunden ist. Um beispielsweise ein »F« zu schreiben, musste die »3« dreimal rasch gedrückt werden). »Ich konnte


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