Klingen, um in sich zu wohnen 1. Udo Baer

Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Udo Baer


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      „Leiborientierte Musiktherapie“ schildert dies Buch. Eine neue Methodenbezeichnung?

      Ist damit das Rad (der Musiktherapie) – wieder einmal neu erfunden? Eine neue, weitere der mindestens zwölf „Schulen der Musiktherapie“, wie sie sich gegenwärtig allein im deutschsprachigen Bereich zeigen? Auf dem mühsamen Weg zu einem einigermaßen gemeinsamen Profil gegenüber dem Arbeitgeber Gesundheitswesen?

      Dann wäre dieses neue Rad eines, das den Weg der Musiktherapie hin zu einem selbstständigen Heilberuf im Gesundheitswesen der Zukunft eher mühsamer werden ließe, zum Bremsweg, denn als Erleichterung auf diesem Weg.

      Ein solches Rad ist sie nicht, diese in diesem Buch vorgestellte leiborientierte Musiktherapie, bei der nur die Begrifflichkeit vielleicht für manche musiktherapeutisch Informierte oder Profis neu sein mag.

      Was die Autoren hinter dem Reichtum ihrer Praxismodelle an Menschenbild und Theoriebildung schildern (ab Kapitel 19) ist mehr als nur ein Verwandter 1. Grades „der“ Musiktherapieszene. Denn tiefenpsychologisch-phänomenologisches Empfinden, Wahrnehmen, Denken und therapeutisches Handeln sind Udo Baer und Gabriele Frick-Baer ebenso „eigen“ wie den meisten der ausgebildeten Musiktherapeuten. Zu denen sich die beiden Autoren im respektvoll-bescheidenen Abstand halten, wenn sie hoffen, dass dieses Buch denen Anregungen geben kann, die mit Musik im psychotherapeutischen Prozess arbeiten. Darunter auch MusiktherapeutInnen.

      Zuviel der Bescheidenheit. Ich kann für die Musiktherapie-Szene nur hoffen, dass dieses Buch ebenso positiv überraschte Leser findet – wie ich einer wurde, dem während des Arbeitens mit diesem Buch das deltahafte Gefühl geschenkt wurde, über den Tellerrand der im engeren Sinne musiktherapiespezifischen Fachveröffentlichungen hinausgucken zu können. Fachveröffentlichungen, die für das heutige Profil der Musiktherapie in Forschung und Lehre zwar existentiell wichtig waren und sind, die aber doch – wie in allen Fächern mit zu hohem Tellerrand – von einem ziemlich gleichbleibenden, manchmal inzestuös anmutenden Autorenkernkreis gespeist werden.

      Es ist ein Opus magnus, ein großes Werk, was Udo Baer und Gabriele Frick-Baer hiermit der Fachöffentlichkeit vorstellen. Einmal quantitativ, weit mehr noch qualitativ, das die Vielfalt der Musiktherapien nicht anreichert, sondern vorhandene Distanzen zwischen bestehenden Musiktherapien verringern hilft. Besonders die Distanz zwischen den Musiktherapien, die vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie und der Humanistischen Psychologie gewachsen sind.

       Ein Methoden-Schatz und wie er zu heben ist

      Methodisch finden Leser, die ohnehin mit aktiver Improvisation oder mit rezeptiven Verfahren der Musiktherapie arbeiten, einen Schatz von weiterführenden oder überraschenden Praxismodellen vor, die in bestehendes Methodenrepertoire integriert werden können.

      Beispiele, die ich als Erweiterung, Veränderung, Varianten bestehender musiktherapeutischer Praxismodelle (etwa die von Fritz Hegi, Isabelle Frohne-Hagemann und von mir, s. Literaturverzeichnis) sehe:

       das Arbeiten mit der musikalischen Biografie des Klienten (Panorama-Arbeit) in Kap. 2 („Musikalische Biografie“) oder

       das Arbeiten mit musikalischen Familien- und anderen Aufstellungen unter systemischen Aspekten (wie sie sich ohnehin durch das Buch durchziehen) in Kap. 7 („Familien- und andere Beziehungsstrukturen“)

       das Arbeiten mit Affekten in Kap. 4 („Affektive Leibregungen“). Hier ist für den Leser nur die Akzeptanz der leibphilosophisch begründeten therapeutischen Terminologie nötig, um dahinter vertraute entwicklungspsychologische Begründungen nach Daniel Stern u.a. zu finden. Also „wie bei uns zu haus“ (in der klinischen Musiktherapie). Nur mit dem Vorzug des Überschreitens des Tellerrands

       das Arbeiten mit Körperklängen, Körperbildern in Kap. 8 oder

       das Arbeiten mit musikalischen Dialogen in Kap. 10.

      Beispiele, die ich als neue „Module“ sehe, die im Musiktherapie-Methodenrepertoire ausgezeichnet integrierbar sind:

       Das Arbeiten mit den Leibbewegungen des Körpers und der Musik in Kap. 3 (Leibbewegungen in der Musiktherapie) oder

       das Arbeiten mit dem „Musikalischen Verraumen“ in Kap. 6 (hocheffizient: „Die Schamsonate“ und „Andere Dreier-Formen“ für das posttraumatologische Arbeiten z. B. in dem wachsenden Bereich der Musiktherapie bei sexuellem Missbrauch oder z. B. in dem Bereich der Frühstörungen durch entgleiste Triangulierungserfahrungen).

      Die Bezugsetzung der Musiktherapie zu bestimmter Klientel ist eine gute Reflexion (Kap. 18) und selbst „Banales“ (Kap. 6.3.1) – als solches betitelt – ist es in diesem Buch nicht.

      Basismedizinische und neurologische Sicherheiten vermittelt dieses Werk auch durch klare Informationsbündelungen (ab Kapitel 19) – mehr als sie in manchen der „biochemisch-reinen“ analytischen Musiktherapien zu finden sind. Leider.

      Wenn ich die Fülle von Praxismodellen dieses Buches hervorhebe, dann heißt dies: Kein Rezept. Vielmehr der Auftrag an den Nutzer dieses Buches, die von den Autoren geschilderten methodischen Schritte auf den eigenen Praxisrahmen zu beziehen, zu modifizieren, auf die eigene Klientel, die eigenen Patienten zu spezifizieren. Es gibt keine pädagogischen oder therapeutischen Spielmodelle für unveränderten Transfer, sondern immer nur die achtsame, sorgfältige neue Bezugsetzung zum neuen Menschen als Gegenüber in der Einzeltherapie oder der Gruppe.

       Ein persönliches Buch, eines, das per-soniert

      Das Menschenbild dieser therapeutischen Praxeologie ist nicht nur in den geschriebenen Worten dieses Buches geprägt vom Geist der Humanistischen Psychologie. Vielmehr beeindruckt mich, wie die therapeutischen Begegnungen mit Klienten und Patienten in den zahlreichen Fallvignetten dieses Buches wirklich als „Begegnung“ abstrahlen und den Leser in diese Begegnungen hineinnehmen – im Sinne der „Begegnung“ Martin Bubers oder der gelingenden „Kontaktgestaltung“ im Sinne von Fritz Perls.

      Das Buch wärmt und lässt sicher nicht nur mich „die Überraschung“ im Abenteuer des therapeutischen Prozesses mit dem künstlerisch-therapeutischen Medium Musik ebenso miterleben wie die behutsame – von therapeutischem Eros geprägte – Compliance in Einzeltherapien wie in Gruppen.

      Hinter diesem Buch stehen die Biographien der beiden Autoren, die mir auffallen, weil sie beide eine besondere Kompetenz für Brückenschläge, für interdisziplinäres Denken und Handeln ausweisen: Von den Diplom-Studiengängen in Erziehungswissenschaft und entsprechender Praxis wanderten und trafen die Autoren sich im intermodalen therapeutischen Umgang mit Tanz, Bewegung, Musik, eingebunden in das therapeutische Gespräch.

      Diese Art ihres Umgangs mit den Medien erscheint mir gleichermaßen als Zentrum und Rahmen für die heutige psychotherapeutische Praxis von Udo und Gabriele Frick-Baer und die von ihnen entwickelten Weiter- und Ausbildungsgänge innerhalb ihrer „Zukunftswerkstatt“ sowie in ihren bisherigen Veröffentlichungen (s. Info-Seiten des Verlages am Schluss).

       Wem gehört die Musiktherapie?

      Angesichts des Reichtums in diesem Werk über die „Leiborientierte Musiktherapie“ stellte sich mir neu die Frage nach dem „Besitz“ der Musiktherapie, wem gehört sie?

      Die laute Frage war in den 70er und 80er Jahren noch die zwischen Medizinern einerseits und Musiktherapeuten andererseits. Inzwischen ist diese Frage durch die Entwicklung der Musik als Künstlerische Psychotherapie einerseits und als Musikmedizin (Musik im schulmedizinischen Behandlungskonzept) andererseits friedbringend und kooperativ beantwortet worden.


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