Eine neue Wirtschaft. Johannes Gutmann
Daten verarbeiten oder Flugzeuge fliegen. Nur wer sich auf eine Sache konzentriert, voller Hingabe, kann darin wirklich gut werden.
Ohne Arbeitsteilung kann jeder gerade so das Wichtigste für sein Leben besorgen. Durch Arbeitsteilung bilden sich unzählige Berufe heraus, unter denen du einen wählen kannst, für den du talentiert bist und der dir Spaß macht. Du profitierst von den Fähigkeiten der anderen, und die anderen profitieren von deinen. Es ist ein Kreislauf, der unser Leben erleichtert. Wenn du in diesen Kreislauf der Wirtschaft einsteigst, solltest du dich zunächst fragen:
Welche Leistung kann ich erbringen?
Worin bin ich gut?
Was tue ich gerne?
Was macht mir Spaß?
Was weckt meine Kreativität?
Wobei kann ich mich entwickeln?
Wie kann ich das in den Dienst der Gesellschaft stellen?
Vielleicht hast du dich bis jetzt nicht gerne mit wirtschaftlichen Themen auseinandergesetzt. Aktien, Zinsen, Investments und andere komplizierte Begriffe haben dich abgeschreckt. Dabei ist Wirtschaft etwas ganz Einfaches, ein elementarer Grundbaustein unseres Lebens.
Auch wenn viele Menschen versuchen, dir etwas anderes einzureden: Wirtschaft ist kein abstraktes Phänomen. Wirtschaft ist von den Menschen für die Menschen gemacht. Sie soll unseren Bedarf an Dienstleistungen und Gütern decken. Sie soll dafür sorgen, dass niemand hungern oder frieren muss. Sie soll eine Verbindung schaffen zwischen Menschen innerhalb einer Stadt, einer Region, eines Landes oder eines Kontinents. Letztlich eine Verbindung zwischen Menschen auf der ganzen Welt. Ein System, in dem jeder und jede von der Leistung des anderen profitieren kann.
Was bedeutet Wirtschaft?
Wer Wirtschaft betreibt, als Unternehmer oder Manager, muss ein Egoist sein, lautet ein weit verbreiteter Irrglaube. Er ist nicht ganz unbegründet, hat sich doch unsere Wirtschaft heute von ihren Ursprüngen weit entfernt. Umso mehr müssen wir den Blick darauf richten, was »Wirtschaft« im ursprünglichen Sinne bedeutet. Fangen wir mit der Phonetik an. Sprachgeschichtlich kommt der Begriff »Wirtschaft« vom althochdeutschen Wort »wirtscaft«, das die Tätigkeit des Wirts oder Hausherren meinte. Seine Aufgabe war es, Gäste zu beherbergen und zu bewirten.
Noch eindeutiger ist die Herkunft des Begriffs »Ökonomie«. Im Altgriechischen bedeutet oikos das Haus und die oikonomia bedeutete das Bewirtschaften des eigenen Hauses. Dazu gehörte es, sich um die Familie und um Gäste gut zu kümmern.
Das Wort oikonomia stand eigentlich immer für etwas Einfaches: für das Instandhalten des eigenen Hauses, für die Hilfeleistung gegenüber anderen und für die Rücksichtnahme auf das, was jemand selbst hat.
Ob wir es nun Ökonomie oder Wirtschaft nennen, der Sinn dieses Systems liegt darin, einen Kreislauf zu schaffen, der Wohlstand und Sicherheit für alle erzeugt. Einen Kreislauf, der auf natürliche Weise dafür sorgt, dass Kranke und Schwache geschützt sind. Einen Kreislauf, der Chancengleichheit garantiert.
Die Wirtschaft soll im besten Fall eine Welt schaffen, die gegen Ungerechtigkeiten vorgeht und es den Menschen ermöglicht, ihre Potentiale auszuschöpfen.
Wenn die Wirtschaft diesem Sinn entspricht, wird sie auf natürliche Weise florieren und sich einen Sozialstaat leisten können. Es gibt Errungenschaften wie das Gesundheits-, das Renten- und das Bildungssystem. Die Wirtschaft ist das Fundament einer funktionierenden Rechtstaatlichkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten in den westlichen Demokratien für einen einzigartigen Frieden gesorgt hat.
Die tragende Kraft der modernen Wirtschaft aber sind Unternehmen. Was ist ein Unternehmen? Und wem soll es eigentlich dienen?
DER SINN DER UNTERNEHMEN
Genau diese Frage stellte sich eines Tages der Fleisch-Industrielle Karl Ludwig Schweisfurth. Sein Großvater hatte als Metzger gearbeitet und sein Vater sich mit der familieneigenen Landmetzgerei langsam, aber sicher in die Bürgerlichkeit vorgearbeitet. Der kleine Karl Ludwig lernte das Familienhandwerk aus den Augen eines Kindes kennen. Seine Lehr- und Wanderjahre verbrachte er in den 1950er-Jahren in Amerika. Was er dort sah, und zu diesem Zeitpunkt aus Europa nicht kannte, beeindruckte den jungen Mann: die industrielle Fleischverarbeitung. In Amerika zerlegte man Fleisch maschinell. Die moderne Technik war schnell, effizient und sie erforderte weniger Krafteinsatz. Kaum zurückgekehrt in den elterlichen Betrieb, schmiedete Schweisfurth deshalb große Pläne. Er übernahm die elterliche Landmetzgerei, stellte Fließbänder, Verpackungsautomaten und Datenverarbeitungsmaschinen in die Werkshallen und trimmte den Betrieb auf amerikanische Effizienz. Schweisfurth war ein Pionier seiner Branche, einer, der den technischen Fortschritt klug nutzte und sich von den Errungenschaften in Übersee anstecken ließ.
Doch nicht nur die Idee des Fortschritts hatte von ihm Besitz ergriffen, sondern auch die amerikanische Mär vom grenzenlosen Wachstum. Bald erwirtschaftete Schweisfurth mit 5.500 Mitarbeitern mehr als eine Milliarde D-Mark (rund 500 Millionen Euro) im Jahr. Sinnfragen stellte er sich dabei nicht.
Warum tue ich eigentlich, was ich tue?
Ist das, was ich tue, wichtig?
Ist es richtig?
Warum sollte er auch? Sein Unternehmen wuchs und wuchs. Schweisfurth verdiente jedes Jahr mehr. Er war erfolgreich. Was er tat, funktionierte.
Dann kam das Jahr 1980. Mit den Schweinen, die er zur Schlachtung geliefert bekam, stimmte etwas nicht. »Sie waren verhaltensgestört«, erinnerte er sich später in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung taz. »Sie fielen bei der geringsten Anstrengung tot um. Ihr Fleisch war wässrig.«
Schweisfurth wollte dem Qualitätsmangel auf den Grund gehen. Er fuhr ins Oldenburger Land, wo die Tiere herkamen. »Ich dachte, ich würde einen Bauern antreffen«, erzählt er. »Doch ich traf einen Menschen, der einen Bungalow mit Clubgarnitur bewohnte. Er zeigte mir die Ställe. Sie hatten Spaltenböden, die das Ausmisten überflüssig machen. Damals war das die neueste Errungenschaft. Aber da waren auch dieser unglaubliche Gestank, diese Dunkelheit und diese Enge. Als ich zu den Tieren ging, sahen sie mich an, als wollten sie fragen: Was macht ihr mit uns?«
Schweisfurth wunderte sich. Erstmals hatte sein Geschäftssinn ein moralisches Preisschild bekommen. Beständiges Wachstum und unermessliche Profite hatten Lebewesen zu Waren gemacht, deren Lebensqualität nur eine Randnotiz war.
Die industrielle Fleischverarbeitung hat sich seit diesem Erlebnis weiterentwickelt. In riesigen Zuchtfabriken steuert ein einziger Mensch mit wenigen Klicks tausende von Schweinen. Die Tiere haben abgeschliffene Schwänze, sind vollgepumpt mit Medikamenten und stehen so dicht beieinander, dass sie kaum genug Platz haben, sich hinzulegen. Ein Heer moderner Arbeitssklaven, meist aus östlichen Staaten wie Bulgarien oder Rumänien, tötet und zerlegt die Tiere auf grausame Weise. Der Lohn liegt dank billiger Werksverträge bei kaum mehr als vier Euro pro Stunde. Die Tiere dienen nur einem Zweck. Sie sollen so fett werden wie möglich, die Kilozahlen in die Höhe treiben, und als kostengünstiges Mittagessen auf unseren Tellern landen.
Schweisfurth zog sich in ein Kloster zurück und dachte nach. Auch darüber, dass keines seiner Kinder in die Fußstapfen treten wollte, die er gerade hinterließ. Er war gut darin gewesen, Tiere zu Nahrungsmitteln zu verarbeiten. Sein ganzes Leben hatte er das getan. Es war der Sinn seines Lebens. Doch nun erkannte er, dass es seine Pflicht war, sorgsam mit der Natur umzugehen. Sonst würde er der Gesellschaft früher oder später mehr schaden, als er ihr je genutzt hatte.
Nach seinem Aufenthalt im Kloster verkaufte er sein Unternehmen an Nestlé und rief die Hermannsdorfer Landwerkstätten ins Leben. Er wollte zeigen, wie ein Unternehmen aussehen kann, das die Natur nicht mehr ausbeutet, sondern in einer Symbiose mit ihr arbeitet. In diesem vollbiologischen Betrieb steht keiner der 200 Mitarbeiter an einem Fließband. Gelernte Fleischer arbeiten zu einem fairen Lohn. Am frühen Morgen beginnen sie