Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
Volatilität, als Mass für Veränderungen der Wähleranteile der einzelnen Parteien, lange tief. Beide Aussagen stimmen aber nur noch bedingt; die Wahlbeteiligung ist wieder leicht angestiegen oder konnte sich zumindest halten, und die Veränderung der Wähleranteile ist seit der Jahrtausendwende auf europäisches Niveau angestiegen. Ebenso hat der Anteil der Wechselwähler (individuelle Volatilität) in den Wahlen der letzten zwanzig Jahre stark zugenommen.
Hinter diesem Wandel stand zunächst die Ökologiebewegung, die sich in den 1980er-Jahren parteimässig formierte und heute ein gutes Zehntel der Wählerschaft zu gewinnen vermag. Den stärksten Umbruch bewirkte die SVP, die seit Beginn der 1990er-Jahre ihren Wähleranteil von 12 auf annähernd 30 Prozent steigerte und damit zur wählerstärksten Partei aufstieg. Abspaltungen der Grünen wie der SVP wiederum liessen die Grünliberalen und die BDP aufs Parkett treten, von denen nach den Wahlen 2011 die Formation einer «Neuen Mitte» mit dem Koalitionspartner CVP erwartet wurde. Diese scheiterte, und die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf verzichtete 2015 auf eine Wiederwahl.
Diese grossen Umwälzungen im schweizerischen Parteiensystem werden im nächsten Kapitel diskutiert. Hier sei aber auf den gesellschaftlichen Wandel hingewiesen, der hinter den Veränderungen des Parteiensystems steht: Von den klassischen vier gesellschaftlichen Spaltungen (Cleavages), wie sie Lipset und Rokkan (1967) als Erscheinung in allen europäischen Ländern vorfanden, sind deren zwei relativ unbedeutend geworden: Der Graben zwischen Katholiken und Protestanten, der einst Kirchentreue und Laizismus trennte, hat sich eingeebnet; der Milieukatholizismus hat sich aufgelöst. Konflikte zwischen den Sprachgruppen, die in anderen Ländern wie Belgien oder Kanada eine wachsende Rolle spielen, zeigen sich zwar gelegentlich an Abstimmungssonntagen als «Röstigraben», werden aber von den politischen Parteien sehr selten ausgespielt. Das gilt allerdings nicht für die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Stadt und Land. Diese werden von SP bzw. SVP als Konfliktlagen stark thematisiert und zur Mobilisierung benutzt, und auch in der Stimmbürgerschaft nehmen die politische Spaltung zwischen Kapital und Arbeit sowie der Stadt-Land-Gegensatz zu. Zudem werden zwei neue gesellschaftspolitische Spaltungen sichtbar. Die erste bildet sich am Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie und hat sich in der Schweiz ähnlich wie in den meisten westlichen Industriestaaten entwickelt. Die zweite Konfliktlinie bildete sich am Thema aussenpolitischer Öffnung oder Schliessung. Diese steht im generellen Zusammenhang mit der Globalisierung, hat aber für die Schweiz wegen der seit 1992 offenen Frage der EU-Integration eine andauernde Virulenz entwickelt. Diese beiden neuen Spaltungen verlaufen teils quer zu den historischen Cleavages und sind weniger als die Letzteren an bestimmte soziale Schichten gebunden. Die Konfliktpotenziale in der schweizerischen Gesellschaft sind grösser geworden, gleichzeitig aber auch unübersichtlicher.
C. Die aktive Zivilgesellschaft
1. Das Milizsystem
1. Begriff und Funktionen: Milizsystem ist die nur in der Schweiz übliche Bezeichnung für die freiwillige, nebenberufliche und ehrenamtliche Übernahme von öffentlichen Aufgaben und Ämtern. Zumeist nicht oder nur teilweise entschädigt, gehört Miliztätigkeit zum weiteren Bereich von Arbeit, die nicht auf Erwerbsziele gerichtet ist. Auf sozial oder öffentlich motivierter Nichterwerbsarbeit beruhen zahllose kulturelle, soziale oder sonstwie gemeinnützige Organisationen.10 Freiwilligenarbeit in diesem erweiterten Sinn ist ein Merkmal jeder Zivilgesellschaft. Sie hat aber in der Schweiz im politischen Bereich eine besondere Bedeutung, da auch sehr viele öffentliche Funktionen und Aufgaben milizmässig erbracht werden. Als wichtiges Beispiel sei hier die gesellschaftliche Integration ausländischer Jugendlicher genannt, für welche die Sportvereine einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leisten (Lamprecht et al. 2011).
Das Milizsystem hat historische Wurzeln, die weit zurückreichen. Zu diesen gehört etwa das bereits erwähnte «Gemeinwerk», zu dem in Gemeinden des Kantons Wallis alle erwachsenen Männer für die Errichtung und den Unterhalt der Suonen (Wasserkanäle aus den Hochtälern) periodisch herangezogen wurden (Niederer 1956). Das Milizsystem erfüllt aber auch eine wichtige Funktion in der heutigen schweizerischen Demokratie: Bürgerinnen und Bürger stellen Fähigkeiten aus ihrem Zivilleben und einen Teil ihrer Zeit zur Erfüllung öffentlicher Funktionen und Aufgaben zur Verfügung. Damit wird es überhaupt erst möglich, sich in einem Kleinstaat neben den Bundes- und 26 kantonalen Behörden auch noch rund 2300 Gemeinden als feingliedrig strukturiertes Politiksystem zu leisten (Müller 2015a). Nach Geser et al. (1987) erweitert so die Kleingesellschaft ihre beschränkten Fähigkeiten zur Arbeitsteilung und Differenzierung sowie die begrenzten Ressourcen für eine professionelle Aufgabenerfüllung.
Eine dritte, demokratietheoretische Funktion kommt hinzu: Das Milizsystem erweitert die Zahl der Aufgaben und Rollen, in denen Bürgerinnen und Bürger, entweder gewählt oder ernannt, über Wahlen und Abstimmungen hinaus zu einer qualifizierten politischen Partizipation gelangen. Das Milizsystem ermöglicht also nicht nur eine politische Kultur der «Selbstverwaltung» (Bäumlin 1961), sondern eröffnet vielen Personen die Möglichkeit erweiterter demokratischer Teilnahme. So führt das Milizsystem auch zu anderen Zugängen und einer besonderen Form der Qualifizierung nebenberuflicher politischer Eliten. Nach gängiger Vorstellung verhindert das Milizsystem die Herausbildung einer besonderen politischen Kaste. Zwei Einwände sind zu machen: Der erste betrifft die soziale Selektivität des Milizsystems (siehe unten, Punkt 4). Zweitens finden sich auch immer wieder Gegenbeispiele starker Kooptation in öffentlichen Ämtern, deren Besetzung nicht durch allgemeine Wahlen, sondern durch Ernennung der Behörden erfolgt.
2. Verbreitung: Das Milizsystem ist auf allen Ebenen verbreitet. Zu milizmässig erbrachten politischen Mandaten, Ämtern und Aufgaben gehören:
– Alle Parlamentsmandate auf Ebene von Bund, Kantonen und Gemeinden,
– Ein erheblicher Teil der Exekutivämter auf Gemeindeebene, vor allem bei den kleineren Gemeinden,
– Ein Teil der Richterämter auf Stufe der Bezirke und Kantone,
– Kommissionen und Gremien der Spezialverwaltung auf Ebene der Gemeinden (z. B. für Schulen und sonstige Daueraufgaben), der Kantone und des Bundes (z. B. der Wissenschafts- und Hochschulpolitik),
– Ein erheblicher Teil der leitenden Positionen und Ämter der politischen Parteien und der Verbände.
Aus politologisch-soziologischer Sicht fallen die Bewertungen des Milizsystems unterschiedlich aus. Geser et al. (1987) unterstreichen am Beispiel der Gemeinden die Bedeutung des Milizsystems für die Funktionsfähigkeit einer dezentralen politischen Kultur in der Kleingesellschaft. Germann (1981 und 1995) weist aber auch auf die Grenzen des Milizsystems hin, das in vielen Verwaltungsbereichen professionellen Kriterien nicht mehr genügt oder organisatorisch die zunehmende Komplexität nicht mehr bewältigen kann. Die frühe politologische Kritik beanstandete das Milizparlament beim Bund: Dieses weise schwerwiegende Funktionsdefizite aus, die nur durch echte Schritte zur Professionalisierung gelöst werden könnten (Gruner 1974; Riklin/Möckli 1991). Parlamentsreformen haben in der Zwischenzeit viele der kritisierten Mängel behoben, und Z’Graggen (2009a) zeigt im internationalen Vergleich, dass von einer vollen Professionalisierung wenig Vorteile zu erwarten wären. Es bleibt allerdings der Einwand, dass das Milizsystem zur ideologischen Fiktion geworden ist, welches den halbprofessionellen Charakter der eidgenössischen Räte verhüllt (Bütikofer/Hug 2010; Bütikofer 2014).
3. Die Verbindung von Miliz- und professioneller Verwaltung: Das Milizsystem ist nicht einfach eine ältere Form von Verwaltung, die durch eine «modernere» professionelle Aufgabenerfüllung abgelöst wird. Vielmehr gehen professionelle und Milizverwaltung situationsbedingt stets neue Verbindungen ein. Bei den Gemeinden z. B. findet Geser (1987) einen deutlichen Zusammenhang zur Grösse. Erwartungsgemäss sind kleine Gemeinden fast ausschliesslich milizmässig organisiert, während bei den grösseren die professionelle Verwaltung dominiert. Allerdings verschwindet bei den grösseren Gemeinden die Milizverwaltung nicht: Auch diese nutzen weiterhin die Möglichkeiten des Milizsystems kreativ für neue politische Funktionen und Einzelaufgaben. Entsprechend findet sich z. B. eine grosse Typenvielfalt in der Verbindung haupt- und nebenberuflicher Ämter in den Gemeindeexekutiven. Bei eidgenössischen Parlamentariern, die nach wie vor einem Beruf ausserhalb der Politik nachgehen, tut sich ein Dilemma auf: