Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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die 2007 von der SVP abgespaltene BDP, von der bürgerlichen Mitte gewählt werden. Damit hat sich ein «tripolares System» herausgebildet. Dieses System eines Links-, eines Mitte- und eines Rechts-Lagers ist also nicht nur in den parteipolitischen Kontroversen und in der Auseinandersetzung der Parlamentsfraktionen zu beobachten, sondern findet seine Entsprechung auch in der Wählerschaft.

      Freilich lassen sich in einzelnen Sachfragen sowohl bipolare wie auch tripolare Muster ermitteln. Tripolarität findet sich in Fragen der Aufnahme von UNO-Kontinentsflüchtlingen, der Verbindlichkeit von EGMR-Urteilen und bezüglich der Chancengleichheit von Ausländern und Schweizern. Hier unterscheiden sich die SP-Wähler am deutlichsten von denen der SVP, während sich FDP- und CVP-Wähler nahe beieinander aber etwa gleich weit von den beiden Polen entfernt finden. Das alte Links-rechts-Muster «SP gegen den Rest» findet sich am stärksten bei klassischen Wirtschaftsfragen wie höheren Sozialausgaben, stärkerer Besteuerung höherer Einkommen oder der Aufhebung des Bankgeheimnisses im Inland. Neuartige bipolare Muster ergeben sich bei einem geteilten Bürgerblock, zum Beispiel bei der Erhöhung des Rentenalters (einzig von FDP-Wählern etwas stärker befürwortet) oder der Nutzung der Atomenergie, Geldern für die ausserfamiliale Kinderbetreuung oder der erleichterten Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation, wo die SVP isoliert ist. Aber auch die beiden Mitteparteien sind sich des Öftern uneinig, etwa beim Umweltschutz.

      Eine zentrale Hauptfrage politischen Verhaltens lautet: Welche Gründe veranlassen eine Wählerin, ihre Stimme für eine bestimmte Partei abzugeben?

      1. Sozial-strukturelle Bindungen: Gemäss der ältesten Schule der internationalen Wahlforschung9 ist die Wählerin eingebunden in gesellschaftliche Organisationen, die ihre individuellen Interessen (z. B. als Unternehmerin, Arbeiterin, Bäuerin) auf politischer Ebene zuverlässig vertritt. Nach dieser Theorie bestimmen gesellschaftlicher Status oder die Zugehörigkeit zu einer Schicht auch den Wahlentscheid. Für den Einfluss der Sozialstruktur sprechen in der multikulturellen Schweiz heute vor allem die sprachregionalen Unterschiede des Wahl- und Abstimmungsverhaltens, die sich historisch nur langsam verändern (Linder/Zürcher/Bolliger 2008:21–65). Während der Mainstream der Umfrageforschung den sozial-strukturellen Merkmalen von Einkommen, Bildung oder Berufsstatus der einzelnen Wähler keine grosse Bedeutung zumisst, zeigt eine vertiefte Studie (Leimgruber 2007), dass der Stadt-Land-Gegensatz auch von sozialen Milieus geprägt ist. So stimmen z. B. Ärzte oder Juristen trotz gleicher Ausbildung in ländlichen Gebieten konservativer als ihre Berufskollegen in der Stadt. Der Effekt ist aber nicht allein einem vorbestehenden Milieu zuzuordnen. In der Entscheidung von Ärzten oder Juristen, in der Stadt oder auf dem Land tätig zu sein, drücken sich nicht zuletzt unterschiedliche Vorlieben für städtisches oder ländliches Sozialleben aus, die auch unterschiedliche politische Präferenzen einschliessen können. Die Stadt-Land-Migration führt damit auch zur Neubildung örtlich-sozialer Milieus. Der Einfluss des Elternhauses auf das Wahlverhalten ihrer Söhne und Töchter wurde erstmals von Linder (1998) untersucht. Die These, wonach der Wahlentscheid der Kinder in hohem Mass durch die politische Sozialisierung durch das Elternhaus mitbestimmt ist, wurde von Lutz (2009) bestätigt. Der Einfluss variiert freilich für verschiedene Parteien und hängt ab vom politischen Interesse im Elternhaus. Am stärksten ist der Einfluss in CVP-parteinahen Elternhäusern von Vätern auf ihre Söhne, und katholische Nachkommen bewahren ihre konservative Neigung häufiger als nicht katholische. Das Elternhaus, so Lutz, ist damit ein wichtiger Faktor für die Stabilität des Wahlverhaltens.

      Richten wir den Blick nun auf den Wandel, so haben zwei der historisch bedeutsamsten sozial-strukturellen Bindungen mit der Veränderung der einstigen Milieuparteien zu Volksparteien an Bedeutung verloren. Die SP, einst Arbeiterpartei, vertritt zwar nach wie vor ein dezidiert linkes Programm, ist aber zu einer Partei gut ausgebildeter Berufe vor allem des service public geworden. Am stärksten von der Auflösung ihres einstigen Milieus ist die CVP betroffen. Ihre Mehrheitsstellung in den katholischen Landkantonen hat sie längst verloren, und die religiös ungebundene SVP macht ihr die einstige Stammwählerschaft streitig. Mit einem Katholikenanteil von rund 75 Prozent ist die CVP zwar nach wie vor eine Partei katholischer Wählerinnen und Wähler, aber eben keineswegs die Partei aller Katholiken.

      2. Sozial-psychologische Faktoren: Zu diesen gehören das Interesse für Politik, Einstellungen zu bestimmten politischen Themen oder die Sympathie für eine bestimmte politische Partei oder Persönlichkeit. Nach Ansicht des sozial-psychologischen Ansatzes der sog. «Michigan-Schule» bilden sich solche Einstellungen im frühen Erwachsenenalter heraus und bleiben im späteren Leben zumeist konstant. Darum sieht diese Theorie das politische Verhalten weit weniger eingebunden in die vorgegebene Sozialstruktur. Für den Wahlentscheid der schweizerischen Wählerschaft nun erwiesen sich die sozial-psychologischen Faktoren als die einflussreichsten: Die Nähe zu einer politischen Partei bildet das gewichtigste Motiv für den Wahlentscheid. Das ist deshalb erstaunlich, weil die Parteibindungen der schweizerischen Wählerschaft in den letzten 30 Jahren einer starken Erosion ausgesetzt waren. Konnten sich 1971 noch 60 Prozent aller Wahlberechtigten mit einer bestimmten politischen Partei identifizieren, so sank dieser Anteil in den Wahlen von 2015 auf 42 Prozent (eigene Berechnungen basierend auf Selects 1971–2015).

      Die internationale Wahlforschung behauptet seit Langem, dass Sachfragen bei der Parteiwahl dann eine Rolle spielen, wenn sie den Wählern gut bekannt sind, Probleme höchster Priorität ansprechen und stark polarisierend wirken (Campbell et al. 1960:170). Gilt das auch für die Schweiz, wo die Stimmbürgerschaft gesondert über Sachfragen abstimmen kann? Empirische Untersuchungen zeigen, dass Wahlen und Abstimmungen keineswegs zwei verschiedene Paar Schuhe sind; jedenfalls werden Wahlen durch die Referendumsdemokratie weniger entlastet, als man dies aufgrund institutioneller Überlegungen erwarten dürfte. So vermochte die SVP bei den vier zurückliegenden nationalen Wahlen mit ihrer pointierten Position gegen die europäische Integration ein zusätzliches Wählerpotenzial zu mobilisieren, während umgekehrt die integrationsfreundliche Wählerschaft bevorzugt FDP oder SP wählte (Kriesi 2005). Hier lässt sich durchaus von einem Realignment (der Neubildung von Parteibindungen) statt von einem Dealignment (deren Schwächung) sprechen, welches sich auf der Basis einer neuen Konfliktlinie pro/kontra aussenpolitische Öffnung vollzieht (Dalton 2006; Ladner 2006; Kriesi 2015).

      Der Einfluss einer bestimmten Sachfrage auf den Wahlentscheid ist allerdings nicht konstant. So hat die Präferenz für oder gegen die Nutzung der Kernenergie den Wahlentscheid im Jahr 2003 viel stärker beeinflusst als bei den beiden Wahlen zuvor (Selb/Lachat 2004:24–25). Das stimmt überein mit Campbells These: Die Wahlen 2003 fanden nur wenige Monate nach zwei Volksabstimmungen über die Atomfrage statt, während 1995 und 1999 das Thema der Kernenergie nicht auf der politischen Traktandenliste stand. Die japanische Kernkraft-Katastrophe Fukushima im März 2011 dagegen scheint die Wählerinnen und Wähler bei den Parlamentswahlen des gleichen Jahres nicht besonders beeinflusst zu haben. Die Gründe dürften darin liegen, dass Bundesrat und Parlament schon vor den Wahlen erste Schritte für einen langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hatten und dass die Frage von den Parteien im Wahlkampf kaum thematisiert wurde. Umgekehrt nannten im Vorfeld der Wahlen 2015 44 % aller Wählerinnen die Migration als wichtigstes Problem – doppelt wo viele wie vor den vorherigen drei Wahlen und dreimal so viele wie bei anderen Themen (Lutz 2016:26).

      3. Nutzenüberlegungen: Nach der ökonomischen Theorie der Politik (Downs 1957) bilden Nutzenüberlegungen das zentrale Motiv politischen Verhaltens. Schloeth (1998:161 ff.) fand allerdings wenige Anhaltspunkte für einen direkten Einfluss wirtschaftlicher Nutzenmotive auf den Wahlentscheid. Wer sich beispielsweise 1995 von der Beschäftigungs-Unsicherheit bedroht fühlte, wählte nicht stärker die SP als andere Parteien. Es gibt auch kaum Hinweise dafür, dass Arme anders– z. B. häufiger für die SP – wählen als die übrige Wählerschaft (Farago 1998:255 ff.). Dem ökonomischen Theorieansatz der Politik entsprechen indessen die strategischen Überlegungen der Wählerschaft: Um ihre Stimme in der Ständeratswahl nicht zu verschenken, bevorzugen die Wählerinnen und Wähler die chancenreichsten Kandidaten und Parteien (Kriesi 1998), also meist jene der politischen Mitte.

      In der schweizerischen Wählerschaft schien es bis Mitte


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