Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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Rousseau, Philosoph

      «Alle staatliche Macht geht vom Volke aus» – dieser Satz drückt einen Kerngehalt von Konstitutionalismus und Demokratie gleichzeitig aus: Jede politische Herrschaft beruht auf dauerhaften Einrichtungen und auf Entscheidungen, die sich durch den Willen des Volkes zu legitimieren haben. Doch wer ist das Volk? Die formale Antwort ist einfach: alle Stimm- und Wahlberechtigten. Wer aber konkret das Recht hat, an der Demokratie teilzunehmen, war gleichzeitig eine theoretische Streitfrage wie auch ein ständiger Konflikt in der realen Demokratie. Die europäischen Theoretiker liberaler Demokratie des 19. Jahrhunderts sahen die Demokratie als Einrichtung zum Schutz des aufstrebenden Bürgertums. So rechtfertigten sie die realen Beschränkungen des Zensus, der das Wahlrecht nur dem wirtschaftlich selbständigen, verheirateten und männlichen Familienoberhaupt gewährte. Fielen die politischen Rechte auch den Lohnabhängigen zu, so würden diese die Vermögenden enteignen und die «Demokratie als Schutz des Bürgertums» wäre gefährdet. John Stuart Mill war einer der Ersten, die, mit dieser Antwort unzufrieden, als liberale Theoretiker eine Ausweitung hin zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht forderten – freilich mit der interessanten Differenzierung nach geistigem Vermögen: Die gut Ausgebildeten hätten ein mehrfaches, die gering Gebildeten ein einfaches Wahlrecht gehabt (Macpherson 1983). Heute sieht die Demokratietheorie in der geschichtlichen Auseinandersetzung vom beschränkten zum allgemeinen Erwachsenenwahlrecht einen der bedeutsamsten Prozesse politischer wie gesellschaftlicher Demokratisierung. Das Prinzip der «Inclusion», von dem der amerikanische Theoretiker Robert Dahl (1989:119 ff.) spricht, hat sich gegen alle Formen des Zensus durchgesetzt und die Diskriminierungen von Geschlecht, Religion oder Hautfarbe hinter sich gelassen. Dieser geschichtliche Prozess ist jedoch keineswegs abgeschlossen: Noch sind in den meisten Demokratien jene Personen von der Teilhabe ausgeschlossen, die zwar als Einwohner Steuern bezahlen und die meisten zivilen Rechte geniessen, jedoch als Ausländer die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Gleichzeitig wollen viele im Ausland ansässigen Staatsbürger ihre politischen Rechte und Pflichten in ihrer ursprünglichen Heimat wahrnehmen. Und schliesslich könnte man sich auch denken, dass eines Tages zwar nicht Unmündige selbst, aber Eltern stellvertretend für ihre Kinder ein Wahl- und Stimmrecht ausüben, bevor diese mündig sind.1

      In der Schweiz sind gegenüber dieser allgemeinen Entwicklung vier Punkte zu nennen: Erstens hat sich hier das allgemeine Männerstimmrecht sehr früh durchgesetzt. Die Einschränkungen des Zensus waren relativ selten. Zweitens finden wir einen Pionierkanton des Ausländerstimmrechts, nämlich Neuenburg, der den Ausländern bereits 1849 ein beschränktes Stimm- und Wahlrecht verlieh. Im Gegensatz zu anderen Innovationen hat sich diese Einrichtung aber nicht auf dem föderalistischen Weg verbreiten können. Drittens erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene im Jahre 1971 sehr spät. Viertens war die Schweiz lange Zeit ein Auswanderungsland. 2015 waren von den fast 750 000 Auslandschweizern rund ein Fünftel (142 000) in einem kommunalen Stimmregister eingetragen und beteiligen sich, als «fünfte Schweiz», am politischen Prozess ihrer Heimat. Zum ersten Mal gelang zudem einem von ihnen, Tim Guldimann (SP), die Wahl in den Nationalrat. Die Punkte zum Ausländer- und zum Frauenstimmrecht sollen kurz kommentiert werden.

      Wenn Neuenburg den Ausländern bereits 1849 das Stimm- und Wahlrecht in kommunalen Angelegenheiten gab, so hat das seine historische Bewandtnis. Der Bund stipulierte die Niederlassungsfreiheit und die Pflicht, Bürgern aus andern Kantonen die politischen Rechte in Bundesangelegenheiten zu gewähren. Dies wurde nicht überall begrüsst, zumal die Beziehungen zwischen einzelnen Kantonen auch von gegenseitigen Animositäten geprägt waren. Das Argument der Neuenburger lautete nun: Wenn der Bund verlangt, dass kantonsfremden Bürgern politische Rechte gewährt werden müssen, dann ist es nur billig, solche den Ausländern im eigenen Kanton ebenfalls zu geben. Das anfänglich auf die Gemeindeebene beschränkte Stimm- und Wahlrecht für Ausländer wurde 2001 auf die kantonale Ebene ausgeweitet (APS 2000:24). Das Beispiel hat keine Schule gemacht. Zwar gewährt auch der Kanton Jura jenen Ausländerinnen, die seit zehn Jahren in der Schweiz leben und mindestens ein Jahr im Kanton ansässig sind, ein kantonales und kommunales Stimm- und Wahlrecht. Die Kantone Waadt (2002), Genf (2005; nur aktiv) und Freiburg (2006) haben das Stimm- und Wahlrecht für alle Gemeinden eingeführt. Den Gemeinden der Kantone Graubünden (2004), Basel-Stadt (2005) oder Appenzell Ausserrhoden (1995) erlaubt die Verfassung, das kommunale Stimm- und Wahlrecht für Ausländer einzuführen. Die drei Appenzeller Gemeinden Wald (1999), Speicher (2002) und Trogen (2004) haben davon als Erste in der Deutschschweiz Gebrauch gemacht. In den meisten Kantonen und Gemeinden scheiterten Vorstösse zum Stimm- und Wahlrecht für Ausländer jedoch wiederholt im Parlament oder in Volksabstimmungen. Vorlagen des Bundes, die Einbürgerung für Ausländer der zweiten oder dritten Generation stark zu erleichtern und sie auf diese Weise politisch zu integrieren, hatten erst 2017 (Teil-)Erfolg. Hingegen gibt es in der ganzen Schweiz Kirchgemeinden beider Konfessionen, die das Ausländerstimmrecht kennen.

      In der Schweiz – mit einem Ausländeranteil von rund 25 Prozent – wäre das Ausländerstimmrecht von besonderer Relevanz. Befürworter bemängeln, dass heute ein erheblicher Bevölkerungsanteil, der bedeutende Leistungen in Wirtschaft und Gesellschaft erbringt, von der politischen Partizipation ausgeschlossen ist. Die heutige Rechtslage ist zudem in einem wichtigen Punkt inkonsistent: Ausländer in der Schweiz zahlen hier Steuern, haben aber kein Stimm- und Wahlrecht; Auslandschweizerinnen dagegen wählen und stimmen, bezahlen aber hierzulande keine Steuern. Das Ausländerstimmrecht wäre auch ein Schritt aktiver Integrationspolitik, an der die Stimmbürgerschaft ein Interesse haben könnte, weil sie der demografischen Alterung des Stimmvolks entgegenwirkt. Offensichtlich überwiegen aber die Bedenken in der Stimmbürgerschaft diese Vorteile. Die Skepsis kann anscheinend auch durch die politologischen Befunde nicht zerstreut werden, wonach das Ausländerstimmrecht keine Veränderungen der parteipolitischen Gewichte bewirkt (Cueni/Fleury 1994:175–183).

      Der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ging ein langer und schwieriger Prozess voraus. Erste Versuche zur Einführung auf kantonaler Ebene scheiterten 1920/21 in Neuenburg, Basel, Glarus, Zürich, Genf und St. Gallen. 1929 wurde eine mit einer Viertelmillion Unterschriften versehene Petition für ein eidgenössisches Frauenstimmrecht eingereicht. Bundesrat und Parlament reagierten nicht. Erst 1959 kam es zur ersten Bundesvorlage. Die Männer lehnten im Verhältnis 2:1 ab. Im gleichen Urnengang genehmigten allerdings drei Kantone – Basel, Genf und Waadt – sowie eine Reihe von Gemeinden die politische Gleichstellung der Frau. Dies, und die Einführung in weiteren Kantonen, bereitete den Boden für die zweite eidgenössische Abstimmung: 1971 war die politische Gleichberechtigung der Frau erreicht.

      Tabelle 3.1: Einführung des Frauenstimmrechts in 21 Ländern

LandJahrLandJahrLandJahr
Spanien1869/1931Österreich1918Italien1946
Finnland1906Irland1918/1922Frankreich1946
Australien1908Niederlande1919Japan1947
Luxemburg1912Deutschland1919Belgien1948
Norwegen1913USA1920Griechenland1952
Island1915Schweden1921Schweiz1971
Dänemark1918Grossbritannien1928Portugal1974

      Quelle: Nohlen (1990:33)

      Für diesen langen Prozess und seinen späten Erfolg werden unterschiedliche Gründe geltend gemacht.


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