Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
und weitere Massnahmen gegen die «Überfremdung» der Schweiz. In den 1980er-Jahren konzentrierten sich die Überfremdungsparteien vor allem auf das Problem der Asylsuchenden aus der Dritten Welt. Seit den 1990er-Jahren hat die SVP die Probleme der Ausländer- und Asylpolitik zu einem ihrer Hauptthemen gemacht. Sie stellte sich in Referenden gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Länder (2005, 2007, 2009), gegen das Schengen-Dublin-Abkommen (2005) und gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der zweiten Generation (2004, 2017). Auf parlamentarischer Ebene setzte sie verschiedene Verschärfungen des Asylrechts durch. Den Volksinitiativen für ein Minarettverbot (2009) und die Ausschaffung krimineller Ausländer (2010) – von der SVP mit Polemik beworben – war unerwarteter Erfolg beschieden. Einen anhaltenden politischen Konflikt mit der EU bescherte 2014 die Annahme der Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung». Sie verlangte eine eigenstaatliche Beschränkung der Einwanderung durch Kontingente, was Brüssel als unvereinbar mit dem EU-Grundsatz der Personenfreizügigkeit betrachtete und als Gegenstand einer Neuverhandlung der bilateralen Verträge bislang ausschloss.
Einwanderungs- und Asylfragen sind ein politisches Konfliktthema ersten Ranges geworden und haben massgeblich zur Polarisierung im schweizerischen Parteiensystem beigetragen (Linder 2011). Da ist zunächst die Steuerung der Einwanderung. Die Wiedereinführung eines Quotensystems, wie es in den 1990er-Jahren praktiziert wurde, steht heute im Widerspruch zur Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. Begrenzende Quotensysteme, wie sie klassische Einwanderungsländer praktizieren, stehen nur für die aussereuropäische, nicht aber für den Hauptteil der Einwanderung aus europäischen Ländern zur Verfügung, solange die Schweiz an das Freizügigkeitsabkommen mit der EU gebunden ist. Die Massnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration aus der Dritten Welt wiederum sind in den meisten europäischen Ländern nur begrenzt wirksam. Ein dauerhaftes Problem stellt vor allem die gesellschaftliche Integration von Einwanderungsgruppen dar.
Erstens ist es nicht möglich, Ausländerinnen und Ausländer auf dieselbe Art wie früher die eigenen Minderheiten durch die Politik der Teilhabe zu integrieren. Die ausländische Wohnbevölkerung hat auf nationaler Ebene und in den allermeisten Kantonen und Gemeinden kein Stimm- und Wahlrecht. Sie kann deshalb ihre Interessen nicht auf dem Wege politischer Machtbildung und Integration durchsetzen wie seinerzeit Romands oder Katholiken.
Ein zweites Problem ist die starke Zunahme der Zuwanderung aus aussereuropäischen Ländern, deren Kultur sich deutlich von unseren eigenen Vorstellungen unterscheidet. Nicht nur Weltanschauung und Sprache dieser Gruppen, auch deren strukturelle Kultur (Funktion der Familie, geschlechtliche Rollenteilung, Funktion der Erwerbsarbeit und des Staates, Ehre und Schande oder Recht und Unrecht etc.) unterscheiden sich teilweise stark von unseren eigenen Vorstellungen. Hinter der Frage, ob der muslimische Vater seiner Tochter das Tragen des Kopftuchs in der Schule befehlen darf, steht bekanntlich die Frage, wie weit die religiöse und familiale Kultur einer Immigrantengruppe auch gegen Kernelemente unserer eigenen Gesellschaftskultur verstossen darf (z. B. individuelle Grundrechte und Selbstbestimmung). Dabei stellt sich aber nicht nur die Frage, wie weit unseren eigenen Verfassungsrechten Nachachtung verschafft wird (z. B. bei der Verhinderung von «arranged marriages»), sondern es geht auch um den legitimen Minderheitenschutz von Eingewanderten. Hier ist die direkte Demokratie «fremden» Minderheiten gegenüber weniger offen als den eigenen oder gar diskriminierend (Vatter/Danaci 2010; Vatter 2011), wie die jüngsten Beispiele des Minarettverbots oder der Ausschaffungsinitiative zeigen.
Ein drittes Problem berührt die Grenzen der Einwanderung insgesamt. Nach den Modellen des Entwicklungsökonomen Paul Collier (2013) verlaufen Kosten und Nutzen der Immigration nicht einfach linear. Bis zu einem bestimmten Niveau ziehen die Beteiligten – das Herkunfts-, das Gastland sowie die Einwanderer – allesamt Vorteile. Oberhalb dieser Grenzen überwiegen die Kosten, etwa brain drain für das Herkunftsland oder Anpassungskosten des Gastlands. Vor allem aber nehmen die Probleme sozialer Integration zu: Je grösser eine Einwanderungsgruppe, desto geringer der Anreiz, sich mit Sprache und Kultur des Gastlands auseinanderzusetzen, und desto stärker neigt sie dazu, ihr Sozialleben auf die eigene Gruppe zu beschränken. Integration wird schwieriger, soziale Spannungen zwischen einheimischer und Einwanderungsgesellschaft nehmen zu. Nach Collier sind daher die sozialen Probleme ungesteuerter Einwanderung bedeutender als die ökonomischen Vor- und Nachteile für einzelne Gruppen.
Das vierte Problem weist hin auf die Hypothek fragwürdiger Einwanderungspolitik vergangener Jahrzehnte. Diese war vordergründig von den kurzfristigen Interessen einzelner Wirtschaftszweige an billiger Arbeitskraft geprägt. Im Hintergrund stand ein klammheimlicher Konsens von Links bis Rechts, die unangenehmere oder unqualifizierte Arbeit den Ausländern zu überlassen. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Zwei-Klassen-Modell, in welchem sich das Konfliktpotenzial der Schichtung von oben und unten mit den Konfliktstoffen zwischen Einheimischen und Fremden verbindet. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine Abkehr von diesem hochproblematischen Modell ab: Mit dem Freizügigkeitsabkommen kommen vermehrt qualifizierte, zum Teil hoch qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz. Darin sehen Unternehmen wirtschaftliche Vorteile. Dem stehen aber wiederum soziale Kosten gegenüber: Die Skepsis gegenüber der Einwanderung, Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und Befürchtungen einer Überbevölkerung der Schweiz werden neu auch von jenen Mittelschichten geteilt, welche die Konkurrenz qualifizierter ausländischer Arbeitnehmer spüren (Freitag et al. 2015).
Unter all diesen schwierigen Vorzeichen können sich die Bemühungen der Integrationspolitik durchaus sehen lassen, auch wenn diese nicht alle Einwanderungsgruppen erreicht. Ausländerinnen und Ausländer aller Kategorien geniessen vollen Grundrechtsschutz; wer über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, nimmt an allen Leistungen des Sozialstaats teil. In der Schweiz wurden 2015 insgesamt 40 000 Ausländer eingebürgert. Das entsprach 4,8 Einbürgerungen pro 1000 Einwohner – ein europäischer Spitzenwert, der sich in anderer Betrachtung allerdings stark relativiert: Bezogen auf die Ausländerbevölkerung, liegen die Einbürgerungen mit 2 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt von 2,3.29 Einschlägige Statistiken weisen der Schweiz regelmässig einen Spitzenplatz bezüglich der geringen Arbeitslosigkeit jugendlicher Ausländer oder der Qualität der Berufsausbildung von Secondos zu.30 Einwanderer werden also weniger auf der politischen als der zivilgesellschaftlichen Teilhabe integriert. Das multikulturelle und institutionelle Erbe der Schweiz bleibt trotzdem relevant. Einwanderer haben nicht nur die Möglichkeit vorteilhafter Beschäftigung, sondern auch die Option, in der Schweiz jene Sprachkultur zu wählen, die ihnen am meisten entgegenkommt. Integration ist beidseitiges Geben und Nehmen und realisiert sich lokal. Das dichte soziale Netz etwa der Sportvereine und der Freiwilligenarbeit sowie die grosse Autonomie und Handlungsfähigkeit lokaler Behörden in der Schweiz (vgl. Manatschal 2013) sind günstige Bedingungen, um die Herausforderungen der Integration zu bestehen.
1 Mitunter gibt es Verwechslungen zwischen den Begriffen «Staatenbund» und «Bundesstaat». Ein Staatenbund bezeichnet ein Vertragssystem unabhängiger Staaten, während der Begriff «Bundesstaat» oder «Föderation» einen Staat umschreibt, in dem die Macht zwischen einer Zentralregierung und mehreren subnationalen Regierungen geteilt wird, die den Status von Mitgliedstaaten haben. Die Schweiz wird deshalb von 1815 bis 1848 als Staatenbund und seither als Bundesstaat bezeichnet.
2 Zu den sog. «Regenerationskantonen» zählen Aargau, Basel-Landschaft, Bern, Freiburg, Luzern, Schaffhausen, St. Gallen, Solothurn, Thurgau, Waadt und Zürich. Zu den labilen Kantonen, die z. T. wieder in das konservative Lager wechselten, zählt Kölz (1992:223) Luzern, St. Gallen und Freiburg.
3 Altermatt (1996:29 ff.), in seiner Abhandlung zum Ethnonationalismus, unterscheidet «Staatsnation» und «Kulturnation» wie folgt: Für die Kulturnation sind Sprache, Abstammung, Religion und geschichtliche Überlieferung von zentraler Bedeutung. Die Nation wird somit durch vorstaatliche Kriterien gebildet und beruht auf einem ethnischen Nationenbegriff. Hier sind vor allem Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert einzureihen, später aber auch die im Zuge des Ethnonationalismus in Ex-Jugoslawien gebildeten Staaten Kroatien, Serbien und Montenegro sowie der Kosovo.
Die Staatsnation hingegen stellt die politische Einheit in den Vordergrund, und zwar als Gemeinschaft von Bürgern, die vor dem Recht gleich sind – unabhängig von Sprache, Religion oder Abstammung. Als Beispiele politischer Nationen können Frankreich, die USA, Grossbritannien