Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
bestehende Zugehörigkeit einer Gemeinde zu einer Sprachgemeinschaft, auch wenn sich das numerische Verhältnis wegen der Zuwanderung Anderssprachiger in einer Gemeinde stark ändert. Das hat dazu beigetragen, dass der Sprachenfrieden erhalten geblieben ist (Altermatt 1996:142 f.).
3. Proportionale Vertretung der Sprachgruppen: Entscheidend sind die Regeln zur proportionalen Teilhabe der sprachlichen Minderheiten an der politischen Macht. Da die unterschiedlichen Sprachkulturen nicht räumlich dispers verteilt, sondern auf ihre Kantone konzentriert sind, bot ihre proportionale Repräsentation im Parlament wegen der kantonalen Wahlkreise kein Problem. Mit der Einrichtung eines siebenköpfigen, gleichberechtigten Regierungskollegiums und mit der bis 1999 geltenden Verfassungsvorschrift, dass aus einem einzelnen Kanton nur ein Mitglied in den Bundesrat gewählt werden kann, wurden von Anfang an günstige Voraussetzungen zur proportionalen Machtteilung in der Exekutive geschaffen. Die Kantonsklausel wurde zwar 1999 abgeschafft; so fanden sich 2003–2007 erstmals zwei Zürcher und seit 2010 ein Berner und eine Bernerin im Bundesrat. Bei der Wahl beachtet die Bundesversammlung aber weiterhin die politische Tradition, dass die Romandie durch (mindestens) zwei Bundesräte vertreten ist. Die Vertretung der Italienischsprechenden wird in jüngster Zeit weniger beachtet. Sie ging meistens zulasten der Deutschschweiz, sodass sich der Bundesrat oft aus vier Mitgliedern deutscher, zwei Mitgliedern französischer und einem Mitglied italienischer Sprache zusammensetzte.11 Darüber hinaus ist es zu einer allgemeinen Proportionalisierung der Parlamentskommissionen, der Spitzenpositionen in Behörden und in allen Rängen des Verwaltungspersonals beim Bund gekommen. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass diese proportionale Verteilung recht genau eingehalten wird.12 Allerdings müssen die Sprachminderheiten ein wachsames Auge dafür haben, dass ihre Ansprüche beachtet werden. Sonst drohen sie schnell vergessen zu gehen, wie im Nationalrat, wo in der 47. Legislatur (2003–07) praktisch alle Kommissionspräsidien an Personen aus der Deutschschweiz übertragen wurden, obwohl gemäss Parlamentsgesetz (Art. 43.3) die Amtssprachen und Landesgegenden so weit möglich angemessen berücksichtigt werden sollen.
Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, handelt es sich hier nicht um festgeschriebene Rechtsansprüche, sondern um «politische» Quoten, die sich als Usanz herausgebildet haben und an denen festgehalten wird, weil sie sich bewährt haben. Politische Quoten haben in der Schweiz erstaunliche Resultate für die proportionale Repräsentation der verschiedenen Sprachteile erbracht. Freilich garantiert proportionale Vertretung noch keine proportionale Einflussnahme. Stellen wir uns eine Verhandlungsrunde mit sieben Deutschschweizern, zwei Romands und einer Tessinerin vor. Das entspricht realen Verhältnissen und bevorzugt sogar ein wenig die Südschweiz. Allerdings können nun die sieben Deutschschweizer mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, ohne überhaupt die Argumente der andern zur Kenntnis zu nehmen. Und die andern müssen Deutsch lernen, bevor sie überhaupt verstehen, worum sich die Diskussion dreht. Natürlich haben die Minderheiten das Recht, Französisch oder Italienisch zu sprechen. Sie finden sich aber im Dilemma: Reden sie in der Muttersprache, werden sie von den Deutschschweizern vielleicht gar nicht verstanden; reden sie Deutsch, werden sie ihre Argumente weniger gewandt vorbringen können.
Tabelle 2.1: Vertretung der verschiedenen Sprachgruppen in den Bundesbehörden und der Bundesverwaltung, in Prozent
Deutsch | Französisch | Italienisch | Rätoromanisch | |
Bevölkerung (nur CH-Bürger) | 71,3 | 23,2 | 6,1 | 0,7 |
Repräsentation | ||||
Bundesrat | 57,1 | 42,9 | 0 | 0 |
Bundesgericht | 60,5 | 31,6 | 7,9 | 0 |
Nationalrat | 72,5 | 23,0 | 4,5 | 1,5* |
Ständerat | 73,9 | 21,7 | 4,4 | 0 |
Ausserparlamentarische Kommissionen | 71,5 | 23,1 | 5,5 | 0 |
Kommissionspräsidenten des Nationalrates | 84,6 | 7,7 | 7,7 | 0 |
Kommissionspräsidenten des Ständerates | 66,7 | 25,0 | 8,3 | 0 |
Bundesverwaltung | ||||
– Ganze Bundesverwaltung | 71,3 | 21,6 | 6,8 | 0,3 |
– Topkader (Klassen 34–38) | 72,5 | 21,9 | 4,8 | 0,8 |
Quellen: Bevölkerung: BFS (2016a; Zahlen für 2014); Bundesrat, Bundesgericht und Kommissionen: eigene Berechnungen (2016); Bundesverwaltung: EFD (2015:14 und 17; Zahlen für 2014). *Die drei Romanisch sprechenden Nationalräte Campell, Candinas und Semadeni (alle GR) wurden auch der Deutsch bzw. Italienisch sprechenden Gruppe hinzugerechnet. Wir danken Clau Dermont, Uni Bern, für diesen Hinweis. Ausserparlamentarische Kommissionen: Stand 2009.
Wir stehen also trotz verfassungsmässiger Sprachenfreiheit, Föderalismus und proportionaler Vertretung vor der Situation, dass die sprachlichen Minoritäten politisch benachteiligt bleiben können. Was sind die Gründe dafür, dass dies nicht systematisch, also ständig geschieht? Die Antwort kann auf zwei Ebenen gefunden werden. Beobachter weisen oft auf die Sensibilitäten der deutschsprachigen Mehrheit hin: Es wird tunlichst vermieden, die kulturell-sprachlichen Minderheiten vor den Kopf zu stossen. Diese politische Rücksichtnahme muss nicht unbedingt als typisch schweizerisch interpretiert werden; man kann sie auch als einen Fall «angemessenen» Verhaltens sehen, das Rollenträger je nach den Bedingungen ihrer Institutionen entwickeln (March/Olsen 1989). Für das Verhaltensmuster sprachlich-kultureller Rücksichtnahme waren wohl gleich mehrere Faktoren von Bedeutung. Erstens war der Sprachgegensatz kein ständiger und zentraler Gegenstand der politischen Auseinandersetzung; wirtschaftlich-soziale Interessengegensätze hatten zumeist grössere Bedeutung. Zweitens sind sprachliche und konfessionelle oder wirtschaftlich-soziale Konfliktlinien nicht deckungsgleich. Die Romands sind nicht zugleich die Katholischen oder die wirtschaftlich Schwächeren. Vor allem aber war entscheidend, dass sich die politischen Parteien über die Sprachgrenzen hinaus national entwickelten. Unter diesen Bedingungen werden die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Konflikte nicht ethnisch-kulturell organisiert wie etwa in Belgien. Das führte drittens dazu, dass Romands oder Tessiner sich manchmal in der Mehrheit befinden, während auch Deutschschweizer die Rolle der politischen Minderheit erfahren. Wechselnde Koalitionen begünstigen Rücksichtnahme auf kulturelle Minderheiten, weil man sie irgendwann als Mehrheitsmacher benötigt. Insgesamt sind dies auch günstige Bedingungen für die Neutralisierung des sprachlich-kulturellen Konflikts.
4. Sprachenförderung: Die Mehrsprachigkeit erfordert öffentliche Aufwendungen und Umverteilungen zugunsten der kleineren Sprachgruppen. Solche Kosten werden akzeptiert. Regelmässige Umfragen belegen, dass eine grosse Mehrheit der Schweizerinnen der Meinung ist, dass die Medien einen positiven Beitrag zur Integration in der Schweiz leisten (Steinmann et al. 2000:163; BR 2016a). Im Vorfeld der Volksabstimmung zur Revision des Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) vom 14. Juni 2015 gaben 54 % der Stimmbürger an, mit der SRG eher zufrieden zu sein; weitere 18 % waren sogar sehr zufrieden (gfs.bern 2015:77). Ausser für das Rätoromanische wird für jede Sprachgruppe ein volles Fernseh- und Radioprogramm unterhalten. Die kleinste TV-Anstalt, «Radio Televisione della Svizzera Italiana», erhielt 2015 21,8 % aller Gebühren- und Werbeeinnahmen, was etwa dem Fünffachen des Bevölkerungsanteils und der Einnahmen entsprach (SRG 2015:10). Die RTVG-Revision wurde dann allerdings nur sehr knapp, mit 50.08 % Ja und lediglich 3649 Stimmen Unterschied, angenommen (BFS 2016a). Gleich wie