Schweizerische Demokratie. Sean Mueller
Verfassung von 1848 stellte einen institutionellen Rahmen dar, der die Einheit der Nation ermöglichte und gesellschaftliche Konflikte auf demokratisch-gewaltfreiem Wege zu lösen versprach. Eine Verfassung ist aber zunächst nur ein rechtliches Dokument, das die Spielregeln der Politik festlegt. Verfolgen wir eines der wichtigsten Spiele unter den neuen Regeln: Wie entwickelte sich die Integration zur schweizerischen Gesellschaft im Rahmen ihrer Verfassung? Wir beschreiben diese Entwicklung zunächst an den zwei wichtigsten Minderheiten, an denen der schweizerische Integrationsprozess als Ganzes entweder scheitern oder aber reüssieren konnte: den Katholiken und den sprachlichen Minderheiten.
1. Der politische Katholizismus
Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa 40 Prozent der schweizerischen Bevölkerung katholisch, wobei die Kantonsgrenzen nur teilweise mit den konfessionellen Grenzen übereinstimmten. 1860 waren zehn Kantone überwiegend protestantisch (über 75 Prozent) und elf mehrheitlich kleinere Kantone katholisch (über 85 Prozent). Nach offiziellen Statistiken wiesen nur Genf, Graubünden, Aargau und St. Gallen ausgeglichenere Verhältnisse aus. Obschon die Katholisch-Konservativen einen annehmbaren Verfassungskompromiss erreicht hatten, wählten sie nach 1848 eher die Isolation als die Integration. Sie zogen sich auf ihre Kantone zurück und überliessen der freisinnigen Mehrheit die Initiative für nationale Projekte im jungen Staat. Die katholischen Stammgebiete waren vorwiegend ländlich und noch wenig berührt von den industrialisierten Gebieten der fortschrittlich-protestantischen Mehrheit. 1871 wandte sich das Erste Vatikanische Konzil gegen die Säkularisierung, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt sowie die Trennung von Kirche und Staat und versuchte, die Stellung des Papstes als verbindliche Autorität in allen Lebensbereichen auszubauen. Die politische Rückzugshaltung der Katholiken verstärkte sich zur Segregation und zur Herausbildung einer «katholischen Sondergesellschaft» (Altermatt 1989:97 ff.): In den Jahren nach der Gründung des Bundesstaates hatten die katholischen Kantone ihr konfessionelles oder von der Kirche geleitetes Erziehungswesen schrittweise ausgebaut; 1889 kam mit der Universität Freiburg eine katholische Hochschule dazu. Ein dichtes Netz sozialer und vorpolitischer Organisationen hielt Katholiken jeglicher Schicht zusammen und sicherte die Nähe zur Kirche – auch in der schweizerischen «Diaspora», wo sie in der Minderheit waren. Die Katholiken bauten nicht nur ihre Partei und ihre eigenen Gewerkschaften auf, sondern ebenso ihre Zeitungen und Buchhandlungen. In gemischten Gebieten wussten sie, welches der katholische Metzger, Schlosser, Schreiner war. Sie gingen in «ihr» Gasthaus und kauften loyal katholisch ein, selbst wenn die Qualität des protestantischen Konkurrenten besser war. Diese Art von Segregation fand sich auch auf der anderen Seite, wenngleich nicht im selben Ausmass: Der protestantischen Schweiz fehlte die politische Führung durch eine konfessionelle Partei, die, wie auf der katholischen Seite, alle sozialen Schichten auf einer gemeinsamen Basis zusammengefasst hätte. Vor allem aber widersprach eine gesellschaftliche Segregation auf religiöser Grundlage dem Anliegen des freisinnigen Laizismus selbst: Dieser wollte die Trennung von Kirche und Staat und deklarierte den religiösen Glauben als Privatsache. So war das Ziel des Freisinns nicht eine protestantische Segregation, sondern die Bekämpfung der gesellschaftlich dominierenden Rolle der Kirche, wie sie die romtreuen Katholiken anstrebten. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich der konfessionelle Konflikt zuspitzte – vor allem in den paritätischen Kantonen. Die Geschichtsbücher sprechen dabei vom Kulturkampf, in welchem es zwar in der Sache weniger um die Konfession selbst als um die Gegensätze zwischen dem (katholisch-konservativen) Lager der Kirchentreuen und dem (protestantisch-freisinnigen) laizistischen Lager ging. Trotzdem vertiefte sich die gesellschaftliche Spaltung den Konfessionen entlang, und es mag kein Zufall sein, dass die Bundesstadt Bern das Zentrum der Christkatholischen Kirche wurde, die sich in vielen Ländern als Abspaltung nach dem Ersten Vatikanum bildete: Der Freisinn sah darin ein willkommenes «Anti-Rom» gegen die unzuverlässigen «Ultramontanen», also romtreuen Katholiken.
Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 fiel in die Zeit des Kulturkampfs. Die freisinnige Mehrheit setzte dabei ihren laizistischen Standpunkt konsequent durch und diskriminierte die katholische Minderheit in einigen Verfassungsbestimmungen (siehe Kasten 2.3). Erst hundert Jahre später wurden die beiden diskriminierenden Verfassungsartikel (Jesuiten- und Klosterverbot) durch Volksabstimmungen aufgehoben. 2001 haben Volk und Stände schliesslich der Aufhebung der letzten konfessionellen Ausnahmebestimmung in der Bundesverfassung, des sogenannten Bistumsartikels, zugestimmt. Bis es aber so weit war, vergingen vier Generationen, und der Konfessionskonflikt wurde dabei weit weniger durch politische Aktion «gelöst» als durch die Entwicklung abgekühlt.
Die gesellschaftliche Entwicklung hat diese Abkühlung des Konfessionskonflikts in vielfacher Weise unterstützt. Der Modernisierungsprozess wirkte der Segmentierung zwischen Katholiken und Protestanten entgegen. Die Migration über konfessionelle Grenzen hinweg führte zu gemischten Kantonen, Städten und Gemeinden, aber auch zur stärkeren Verbreitung von Mischehen. Das wiederum förderte Toleranz und Zusammenarbeit. Die geringere politisch-konfessionelle Polarisierung begünstigte pragmatische Lösungen im sozialen Leben: In kleineren Gemeinden, wo zwei Gotteshäuser zu teuer wurden, benutzen heute Katholiken und Protestanten die gleiche, «paritätische» Kirche. Die katholische Gesellschaft nahm vermehrt an der Industrialisierung teil; nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand ihre wirtschaftliche und soziale Sonderstellung. Katholisches «Ghetto» und «Milieu-Katholizismus» lösten sich auf und gaben Raum für die Entwicklung eines weltoffenen politischen Katholizismus. 1971 änderten die Katholisch-Konservativen ihren Namen in «Christlichdemokratische Volkspartei». Mit der Akzeptanz der Trennung von Kirche und Staat und einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft vollzog die CVP in der Nachkriegszeit ähnliche Wendungen des politischen Katholizismus wie die Christlich-Demokratische Union (CDU) in Deutschland oder die Democrazia Cristiana (DCI) in Italien.
Kasten 2.3: Die wichtigsten Streitpunkte zwischen Katholiken und Protestanten in der Verfassungsrevision 1874
Die Verfassungsrevision von 1874 war stark vom Kulturkampf geprägt, welcher seinen Höhepunkt um 1870 erreicht hatte. Die liberale Verfassung von 1874 zielte auf einen laizistischen Staat und entband die Kirche von allen öffentlichen Funktionen. Mehrere ihrer Bestimmungen belegen den antiklerikalen Charakter des freisinnig dominierten Staats und vereinzelt auch die Diskriminierung der Katholiken. Streitpunkte, die im Sinne der laizistischen Mehrheit gelöst wurden:
Jesuitenverbot (Art. 51 der alten Bundesverfassung von 1874 [aBV], 1973 aufgehoben)
Verbot neuer Orden und Klöster (Art. 52 aBV, 1973 aufgehoben)
Die Errichtung von Bistümern auf schweizerischem Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes (Art. 50.4, 72.3 BV, 2001 aufgehoben).
Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden (Art. 53 aBV).
Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes (Art. 54 aBV).
Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft (Art. 58 aBV).
Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll (Art. 27.1 aBV).
Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können (Art. 27.3 aBV).
Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich (Art. 49 aBV).
Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet (Art. 50 aBV).
Soweit diese Bestimmungen nicht aufgehoben wurden, sind sie heute auf der tieferen Gesetzesebene oder nur in allgemeiner Form in der neuen Verfassung festgeschrieben: Das Verhältnis von Kirche und Staat wird in Art. 72 geregelt, das Recht auf Ehe und Familie in Art. 14, die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 15, Schule und Schulhoheit in Art. 19, 62 und 66 (Rhinow 2000; BV 1999).
Entscheidend neben der gesellschaftlichen Entwicklung aber war die Integration der Katholiken auf der politischen Ebene. Dazu trug zunächst der Föderalismus bei. Er liess die katholischen Kantone ihre eigene