Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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Gesellschaft.

      Die Kapitel 3–11 analysieren die einzelnen Institutionen und Prozesse der schweizerischen Politik. Es schien angebracht, die Stimmbürgerschaft nicht wie üblich auf die Teilaspekte von Wahlen, Abstimmungen und Parteien zu reduzieren, sondern dem «Volk» als dem eigentlichen Subjekt der Demokratie ein eigenes Kapitel zu widmen (Kapitel 3). Parteien, politische Bewegungen, Verbände werden als wichtigste Organisationen der Artikulation und Bündelung von Interessen dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt ihren je spezifischen Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheide (Kapitel 4–6). Föderalismus (Kapitel 7) ist mehr als eine Verfassungsstruktur vertikaler Machtteilung; er ist auch Ausdruck einer politischen Kultur, welche der dezentralen Selbstbestimmung gegenüber der Macht des Zentralstaats den Vorzug gibt. Die Frage, wie schweizerischer Föderalismus die Prozesse und das Ergebnis der politischen Entscheidungen beeinflusst, wird an einer Reihe von Fallbeispielen untersucht. Kapitel 8–10 sind den drei Organen gewidmet, welchen die Verfassung die formalen Entscheidungsbefugnisse zuordnet: Regierung, Parlament und Stimmbürgerschaft. Der politologischen Analyse der Referendumsdemokratie wurde dabei besondere Beachtung geschenkt, bevor das Konkordanzsystem mit seinen Vernetzungen zwischen vorparlamentarischem, parlamentarischem, direktdemokratischem und administrativem Entscheidungskomplex in Kapitel 11 dargestellt wird.

      Wer die Eigenheiten des schweizerischen Systems verstehen will, kommt um eine vergleichende Betrachtung nicht herum. Die Kapitel 12–14 gehen der Frage nach, wie direkte Demokratie, Föderalismus und Machtteilung in anderen Ländern praktiziert werden. Dabei zeigt sich, dass Konkordanz nicht einfach einen helvetischen Sonderfall darstellt. Vielmehr kann «Konsensdemokratie» als ein Gegenmodell zur Mehrheitsdemokratie angloamerikanischer Prägung begriffen werden. Länder wie Südafrika, Belgien oder Indien zeigen, dass politische Machtteilung in anderen historischen und gesellschaftlichen Situationen Ähnliches leistet wie in der Schweiz, nämlich die Überwindung kultureller Konflikte und Spaltungen. Solche Erkenntnisse bedeuten keine Abwertung der Eigenheiten schweizerischer Demokratie – im Gegenteil. Sie öffnen erstens den Blick dafür, was diese Eigenheiten wirklich sind und was die eigenen Institutionen im Vergleich zu anderen zu leisten vermögen und was nicht. Zweitens zeigt die vergleichende Perspektive, wie weit und warum die Strukturen schweizerischer Demokratie über das eigene Land hinaus von Bedeutung sind. Das abschliessende Kapitel 15 versteht sich als Diskussionsbeitrag zur Frage, wie schweizerische Demokratie zu bestehen vermag im Prozess einer Globalisierung und Europäisierung, deren Schatten immer länger werden.

      1 Beide stammen vom Künstler Ben Vautier; letzteres war auch das Motto des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla 1992.

      2 Zu den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen gehören: a) Kollektivgüter: Der private Markt stellt sie nicht bereit, weil sie auch von Nichtbezahlenden konsumiert werden können (z. B. öffentliche oder nationale Sicherheit) und/oder weil sie als frei zugängliches Gut durch viele übernutzt oder zerstört werden (Rivalität des Konsums z. B. von sauberer Umwelt); b) Meritorische Güter: Sie können an sich von Privaten hergestellt werden, jedoch nicht zur Menge, zum Preis oder in jener Qualität, wie sie von der Gesellschaft gewünscht werden (z. B. Bildung, Gesundheit, Kultur). Neben diesen allgemeinen ökonomischen Kriterien bestimmen Verfassung und Gesetz den Kreis und den Umfang öffentlicher Güter und Dienstleistungen.

      3 Zur näheren Unterscheidung vgl. Kapitel 2.

      4 Der Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz war nach Jost (1983:120) in erster Linie ein Problem der politischen Elite und ihrer agitierenden Presse und weniger eines der Bevölkerung.

      5 Der hier angebrachte Begriff der Subsidiarität lässt sich umschreiben als «Was du selber kannst besorgen, das verschiebe nicht nach oben.»

      6 Näheres dazu in Kapitel 3, Abschnitt A2.

      Kapitel 2: Durch politische Integration zur multikulturellen Gesellschaft

      «Den Bedrohungen von aussen kann nur ein Volk Widerstand leisten, das trotz aller Verschiedenheit der Sprache, der Konfession und der Rasse das Bewusstsein der nationalen Zusammengehörigkeit besitzt.»

      Arbeitsgemeinschaft «Frau und Demokratie» zum 1. August 1933

      «Switzerland is not peaceful because of its people but because of its institutions.»

      Walter Kälin, Völkerrechtler

      Nach dem Wiener Kongress von 1815, als in Europa viele Strukturen des vorrevolutionären Ancien Régime wieder etabliert wurden, erwartete niemand, dass die schweizerischen Kantone eine der ersten Demokratien und einen eigenen Nationalstaat schaffen würden. Zwar hatten sich Uri, Schwyz und Unterwalden als erste Kantone im 13. Jahrhundert von den Habsburgern unabhängig gemacht. Andere Orte folgten dem Beispiel und traten dem Bündnis bei, in dem sich die Eidgenossen gegenseitige Hilfeleistung zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit versprachen. Zur Zeit der Französischen Revolution bildeten dreizehn Kantone einen losen Staatenbund. Hatten diese sogenannten «Alten Orte» zunächst erfolgreich für die Befreiung von feudalistischer Herrschaft gekämpft, so hinderte sie das später nicht, sich selbst Untertanengebiete anzueignen und diese auszubeuten. Kein Wunder also, dass das morsche «Ancien Régime» der alten Kantone auch aus inneren Gründen zusammenbrach, als 1798 Truppen der Französischen Revolution auf ihrem europäischen Befreiungszug die Schweiz besetzten.

      Mit dem Diktat Napoleons von 1798 wurden die Kantone zu einer Republik nach dem Muster der französischen Direktorialverfassung. Während es gelang, die Vorrechte der Alten Orte durch Gleichstellung der ehemaligen Untertanengebiete als neue Kantone zu brechen, scheiterte der Versuch, die Kantone im Einheitsstaat der Helvetischen Republik zu verschmelzen. 1803 kam auf Geheiss Napoleons die Mediationsakte zustande, welche die gliedstaatliche Autonomie der Kantone wiederherstellte. 1815 schliesslich gewann die Eidgenossenschaft ihre volle Unabhängigkeit zurück. Die Gleichberechtigung aller Kantone blieb dabei als dauerhafte Errungenschaft der Französischen Revolution bestehen. Aber man näherte sich wieder dem alten System eines Staatenbunds, einem lockeren Zusammenschluss von nunmehr fünfundzwanzig Kantonen, die sich als souveräne Staaten betrachteten. In ihrem «Bundesvertrag» garantierten sich die Kantone gemeinsame Sicherheit durch gegenseitige Hilfeleistung. Eine Konferenz von Delegierten – die Tagsatzung – konnte gemeinsame Entscheide fällen. Diese Delegierten waren jedoch an die Weisungen ihrer kantonalen Regierungen gebunden, deshalb war ein Konsens nur schwer zu erreichen. Der Staatenbund von 1815 hatte also weder ein Parlament noch ein Exekutivorgan, und der Bundesvertrag enthielt anders als die vorherigen Verfassungen keine Freiheitsrechte zugunsten der Bürger (Kölz 1992:184). Mit andern Worten: Der Schweiz fehlten wichtige Eigenschaften eines Nationalstaats.1

      Die folgenden Jahrzehnte waren von einer zunehmenden Polarisierung zwischen den politischen Bewegungen des Freisinns und der Konservativen gekennzeichnet. Die Konservativen stammten vor allem aus katholischen und ländlichen Gebieten. Als Minderheit lehnten sie die Aufhebung der Einstimmigkeitsregel für Beschlüsse der Tagsatzung ab, und noch mehr widersetzten sie sich der Idee einer starken Zentralregierung. In einer Zeit der beginnenden Demokratisierung auf kantonaler Ebene wollten die Konservativen auch die starke politische und kulturelle Stellung der katholischen Kirche bewahren. Auf der anderen Seite stand die Bewegung der Freisinnigen. Sie war vorwiegend in den protestantischen, städtischen und industrialisierten Gegenden verwurzelt. Ihr politisches Ziel der Demokratisierung erreichte sie in elf Kantonen in der sog. Regenerationszeit nach 1830.2 Unter der Devise der «Volkssouveränität» und des «Fortschritts» entstanden liberale Verfassungen, die das Stimm- und Wahlrecht für die erwachsenen Männer, die Gewaltentrennung, die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten, aber auch die Trennung von Kirche und Staat brachten (Blum 1983).

      Das laizistische Staatsverständnis des Freisinns verweigerte der konservativen Minderheit die Bewahrung der gesellschaftlichen Vorrechte ihrer Kirche. Damit verschärfte sich zu Beginn der kantonalen Demokratisierung nochmals der konfessionelle Konflikt. Dieser hatte in der Alten Eidgenossenschaft zu vier Religionskriegen geführt. An deren Ende stand aber immer der Versuch zur Verständigung und des friedlichen Zusammenlebens zwischen den katholischen und protestantischen Gebieten. Statt


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