Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


Скачать книгу
auf die nationale Ebene. Schliesslich war das allgemeine Stimm- und Wahlrecht in gewissem Sinn ein Ersatz für die noch fehlende schweizerische Gesellschaft: Es gab kaum etwas Gleiches zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern oder zwischen Protestanten und Katholiken ausser dem demokratischen Recht auf politische Teilnahme, zuerst in den Kantonen und dann auch im neuen Staat. Das allgemeine Stimm- und Wahlrecht sowie die Volkssouveränität wurden dadurch zu den wohl wichtigsten symbolischen und realen Elementen, welche die abgekapselten Gesellschaften der Kantone miteinander verbanden und ihre politische Integration gestatteten.

      Unsere letzte Behauptung, dass das Demokratieprinzip der nationalen Einigung förderlich war, stösst sofort auf einen zentralen Einwand: Wo bleibt der Einfluss der Minderheiten, wenn die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet? Die theoretische Antwort lautet: Auch die Beschlüsse einer Mehrheit sind nie endgültig. Die Minderheit darf versuchen, Entscheide neu zur Diskussion zu stellen. Zudem können sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament oder nach Wahlen ändern. Diese theoretische Antwort kann konfessionelle oder ethnische Gruppen als permanente Minderheiten freilich nicht befriedigen. Denn das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition ist nur möglich bei der Änderung von Präferenzen, die der Bürgerschaft als Ganzem offenstehen. Die Interessen struktureller Minderheiten der Sprache, Kultur, des Geschlechts oder der Ethnie jedoch haben kaum eine Chance, durch veränderte Präferenzen mehrheitsfähig zu werden: Demokratie macht aus Deutschschweizern keine Romands und aus Protestanten keine Katholiken. Für die Interessen struktureller Minderheiten ändert sich darum das Mehrheitsverhältnis in einer Demokratie nicht. Umgekehrt kann es sich eine strukturelle Mehrheit leisten, Minderheiten systematisch zu übergehen. Eine Mehrheitsdemokratie kann also zu «ewigen» Machtverhältnissen und Diskriminierung führen. Genau dies waren die Befürchtungen der Minderheitskantone. Katholiken, Romands und Tessiner hatten Grund zur Annahme, dass sie in einem Nationalstaat unter deutschschweizerisch-freisinniger Hegemonie die ewigen Verlierer wären, ihre Bedürfnisse und Interessen systematisch benachteiligt blieben.

      Ein zweites Problem: Auch die Freisinnigen waren keineswegs frei in der Errichtung des Bundesstaats. Denn auch für ihre Kantone bedeutete der Zentralstaat den Verzicht auf Teile eigener Autonomie. Die Zentralisierung konnte also nur so weit stattfinden, als plausibel gemacht werden konnte, dass die Vorteile der Zusammenarbeit im Bundesstaat die Nachteile des Verlustes eigener Autonomie überwogen. Die Antwort auf beide Probleme bestand in der Kombination von Demokratie- und Föderalismusprinzip. Dies beinhaltete zweierlei:7

      1. Mitwirkung beim Bund als Ersatz für den Verlust kantonaler Souveränität: Die Verfassung gab den Kantonen die Möglichkeit, sich am Entscheidungsprozess auf nationaler Ebene zu beteiligen. Ähnlich dem amerikanischen Zweikammersystem wird der Nationalrat, dessen kantonale Sitzverteilung der Bevölkerungsgrösse entspricht, von einem Ständerat ergänzt, in dem die Kantone unabhängig von ihrer Grösse mit zwei Stimmen repräsentiert sind. Zudem reden die Kantone bei Verfassungsänderungen mit, da neben dem Volksmehr auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen muss. In der Gesetz- wie in der Verfassungsgebung wird also die demokratische Entscheidungsregel «eine Person – eine Stimme» ergänzt durch die föderalistische Entscheidungsregel «ein Kanton – eine Stimme». Da bindende Entscheidungen nur durch Zustimmung beider Räte zustande kommen, wurde der Einfluss der kleinen (und das waren vornehmlich konservative) Kantone verstärkt.

      2. Nichtzentralisierung: Die politische Heterogenität der Kantone setzte der Zentralisierung enge Grenzen. Dem Bund von 1848 wurden nur wenige Kompetenzen eingeräumt. Damit beliess das Verfassungsprojekt den Kantonen die meisten ihrer Aufgaben und eine grösstmögliche Autonomie. In allen Fragen, die den Kantonen vorbehalten blieben, waren weiterhin unterschiedliche Antworten gemäss den besonderen Präferenzen der jeweiligen kantonalen Mehrheiten möglich. Diese Nichtzentralisierung versprach den Fortbestand kulturell verschiedener Lebensstile und den Schutz der konfessionellen und sprachlichen Besonderheiten der Kantone. Sie bedeutete auch eine Konzession an die katholisch-konservative Minderheit. So enthielt das Verfassungsprojekt einen doppelten Kompromiss: einen Interessenausgleich zwischen Zentralisten und Bewahrern kantonaler Autonomie und einen Teilausgleich zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen. Beides erhöhte die Chancen einer Annahme in der ersten Volksabstimmung, die für die Gründung des Bundesstaats erforderlich war.

      Kasten 2.2: Geschichtsmythen als schweizerische Erinnerungskultur

      Im 19. Jahrhundert wirkten Geschichtsmythen überall in Europa als Katalysatoren der Nationalstaatenbildung. Historische Mythen vermischen auf Quellen gestützte Fakten mit Geschichtskonstruktionen, homogenisieren die Gesellschaft und fördern den Willen zum Zusammenleben, bieten gemeinsame Normen und Werte an, wecken kollektive Unabhängigkeits- und Freiheitsgefühle, schenken der eigenen Gemeinschaft einen schicksalshaften, oft gottgewollten Ursprung und helfen, deprimierende kollektive Erfahrungen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten (Filser 2004). Historische Mythen lassen, wie es Ernest Renan in seiner 1882 gehaltenen Rede «Que est-ce que c’est une nation?» ausdrückte, die Nation als «Schicksalsgemeinschaft der Lebenden mit den Toten und den noch Ungeborenen» erscheinen (Hobsbawm 2004:225). Sie setzen die Vergangenheit absichtlich mit der Gegenwart zusammen und künden darüber hinaus von einer heilvollen Zukunft.

      Während und nach der Gründung des Bundestaates fungierten längst vergangene Schlachten und Heldenfiguren als «Erinnerungsorte» für die junge Schweizer Nation (Nora 1996). So machten um 1848 etwa Geschichten und Lieder über Arnold von Winkelried die Runde. Man berichtete, er habe in der Schlacht von Sempach 1386 die habsburgischen Lanzen auf sich gezogen, um seinen eidgenössischen Mitstreitern und der Freiheit eine Bresche zu schlagen. Seit 1865 erinnert das Winkelrieddenkmal in Stans an den heldenmütigen Widerstand der Eidgenossen gegen übermächtige fremde Vögte. Wilhelm Tell wurde im 19. Jahrhundert ebenfalls verehrt. Als Ideal eines hart arbeitenden, einfachen, fürsorglichen und freiheitsliebenden Bergbauers und Familienvaters zierte seine Gestalt Dorfplätze, Briefmarken sowie Postkarten, und noch heute erinnert der Fünfliber an den Schweizer Nationalhelden. Auch wenn der Tellmythos auf einer alemannischen Sage aufbaute, half er in allen Schweizer Landesteilen, den Widerstandsgeist gegen Fremdbestimmung und eine Alpenromantik als charakteristische Schweizer Tugenden zu konstruieren (Richter 2005:89–90). Auch die Gaststätten im jungen Bundesstaat trugen geschichtsträchtige Namen: Helvetia, Drei Eidgenossen, Weisses Kreuz oder eben Wilhelm Tell.

      Andere Erzählungen stärkten den internen Zusammenhalt der «Willensnation», ohne den eidgenössischen Befreiungskampf gegen fremde Mächte zu betonen. Beispielsweise wurde gemeldet, während des Ersten Kappeler Krieges 1529 zwischen dem reformierten Zürich und den katholischen Innerschweizer Orten hätten sich einfache Soldaten beider Seiten verbrüdert, um aus einem Topf gemeinsam Milchsuppe zu löffeln. Dass es eher aufgrund der Vermittlung der neutral gebliebenen eidgenössischen Orte als wegen der Fraternisierung des katholischen und protestantischen Fussvolkes nicht zur Schlacht kam, war für die verbindende Wirkung des Mythos während der Nationalstaatsgründung freilich zweitrangig.


Скачать книгу