Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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% Ja; ibid.).

      Schweizer empfinden die Mehrsprachigkeit ihres Landes als normal oder sind sogar stolz darauf. Allerdings ist es ein Mythos zu glauben, die Mehrsprachigkeit des Landes führe zur ausgeprägten Mehrsprachigkeit ihrer Einwohner. Nur eine Minderheit nutzt Medien der anderen Landessprachen, womit auch die politische Kommunikation segmentiert bleibt. Schweizerinnen und Schweizer verständigen sich im persönlichen Gespräch leidlich über die Sprachgrenzen hinweg. Auch lassen sich viele Beobachtungen über die Sprachverhältnisse auf das gesellschaftliche Leben übertragen: Die kulturellen Eigenheiten und Unterschiede zwischen Romands, Deutschschweizern, Tessinern und Rätoromanen bleiben trotz politischer Integration erhalten. Diese Differenzen bereichern heute das gesellschaftliche Leben, erschweren es manchmal, sind aber nur in seltenen Fällen direkte Ursache politischen Konflikts. Zum Teil ist das Zusammenleben der Sprachkulturen auch bloss ein Getrennt-Leben in den Kammern der Sprachregionen. Der Kantonsföderalismus bewahrt die horizontale Segmentierung der schweizerischen Gesellschaft und ermöglicht es den Tessinern, Romands, Rätoromanen und Deutschschweizern, nebeneinander zu leben, ohne sich gegenseitig zu stören (Watts 1991, 1996). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehren sich aber die Hinweise, dass sprachlich-kulturelle Fragen nationaler Bedeutung nicht mehr bloss an die Kantone delegiert werden können, sondern eine integrale Sprachpolitik erfordern (Watts/Murray 2001). Das zeigt sich nicht zuletzt im Fremdsprachenunterricht in der Volksschule, wo bisher das Erlernen einer zweiten Landessprache im Vordergrund stand. Nun wird das Englische auch in der Schweiz immer mehr zur Lingua franca, und einige Deutschschweizer Kantone haben damit angefangen, «Frühenglisch» statt Französisch oder Italienisch zu unterrichten. So geben denn auch vier von zehn Personen an, mindestens einmal pro Woche Englisch zu sprechen (BFS 2016b:18). Vor allem die französischsprachige Schweiz wehrt sich allerdings dagegen, weil sie dadurch den nationalen Zusammenhalt bedroht sieht. Die Debatte um den Fremdsprachenunterricht wirft in der Deutschschweiz weniger Wellen, was wiederum von den Romands als Zeichen dafür gewertet wird, dass sie nicht mehr angehört werden. Nach altbewährtem Muster ist versucht worden, den Konflikt mit einer föderalen Lösung zu schlichten: Seit 2008 verlangt ein Bundesgesetz den obligatorischen Fremdsprachenunterricht in mindestens einer zweiten Landessprache und in einer weiteren Fremdsprache. Das erlaubt Spielraum: In den Primarschulen des Tessins, Graubündens, der Westschweiz und ihren angrenzenden Kantonen lernen Kinder als erste Fremdsprache heute im Allgemeinen eine Landessprache, während sich in den Zentral- und Ostschweizer Kantonen sowie in Zürich und dem Aargau das Englisch als erste Fremdsprache durchgesetzt hat. Das ist dem Bundesrat allerdings zu viel: 2016 schlug er eine stärkere Berücksichtigung einer zweiten Landessprache gegenüber anderen Fremdsprachen vor.

      Der Jura stellt einen wichtigen Fall der jüngeren Geschichte dar, bei dem die politische Integration misslang. Der nördliche Jura fühlte sich als ethnische, sprachliche, religiöse und wirtschaftliche Minderheit des Kantons Bern benachteiligt. Die Region verlangte in einem über vierzigjährigen politischen Kampf, der von zivilem Ungehorsam und Gewalt gekennzeichnet war, die Trennung vom alten Kanton und politische Autonomie. Die Sezessionsbewegung hatte Erfolg: 1978 wurde der Jura zum eigenen Kanton.

      Angesichts der Häufigkeit von ungelösten ethnischen, Sprachen- und Religionskonflikten in vielen Staaten erscheint es erstaunlich, dass die Schweiz bei der Integration ihrer sprachlich-kulturellen Minderheiten übers Ganze gesehen erfolgreich war. Man kann sich aber auch fragen, warum diese Integration in dem einen Ausnahmefall des Juras nicht gelang. Oberflächliche Erklärungen reichen nicht weit: Es gibt schliesslich keine Hinweise dafür, dass Schweizer von Natur aus friedfertiger wären als Nichtschweizer, oder der Jura weniger als die übrige Schweiz. Während die Geschichtswissenschaft eher die Besonderheiten einzelner Integrationsprozesse aufzeigt, glaubt die vergleichende Politikwissenschaft an die Möglichkeit, bestimmte Regelmässigkeiten für deren Gelingen oder Scheitern aufzeigen zu können.

      Zu den wichtigen Faktoren für das Gelingen oder Misslingen sprachlich-kultureller Integrationsprozesse zählt z. B. Steiner (1998:268 ff.):

      – Aussenpolitischer Druck: Druck von aussen auf die staatliche Unabhängigkeit begünstigt die innergesellschaftliche Integration – allerdings nur dann, wenn Drittmächte nicht ein Direktinteresse mit einer der Minderheiten verfolgen. Ist die staatliche Unabhängigkeit nicht gefährdet, so kann innergesellschaftlicher Konflikt eher zur Desintegration führen.

      – Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der kulturellen, sozialen und ökonomischen Konfliktlinien: Fühlt sich eine kulturelle Minderheit nicht nur sprachlich-kulturell benachteiligt, sondern auch religiös und wirtschaftlich, so sind das wegen des Zusammenfallens mehrerer Konfliktlinien ungünstige Bedingungen für die Integration. Nicht übereinstimmende Konfliktlinien dagegen erleichtern die Integration, denn sie verhindern die gegenseitige Verstärkung von sprachlichen, religiösen und wirtschaftlichen Konflikten.

      – Mehrheitspolitik oder Machtteilung: Mehrheitspolitik ist eine ungünstige Voraussetzung für die Integration religiös-kultureller Minderheiten, während die Beteiligung dieser Minderheiten an der staatlich-politischen Macht (z. B. mittels Proporz) ihre Integration begünstigt.

      Diese Hypothesen Steiners scheinen recht gut geeignet, sowohl die Regel wie auch die Ausnahme des Erfolgs schweizerischer Integrationsbemühungen zu erklären.

      Für die gesamtschweizerische Integration lagen insgesamt günstige Bedingungen vor.13 Als unmittelbarer Nachbar von kriegführenden Mächten war die nationale Unabhängigkeit der Schweiz bis 1945 unsicher; unter diesem Druck war das Gemeinsame wichtiger als das Trennende. Ein glücklicher Umstand war dabei, dass keiner der Nachbarn daran interessiert war, die innerschweizerischen Minderheitsprobleme für sich auszunützen. Dann stimmten, wie bereits angedeutet, die geografischen Grenzen der religiösen, sprachlichen und sozioökonomischen Segmentierung nicht überein. Unter den Romands finden wir protestantische Kantone wie die Waadt und Neuenburg oder katholische wie das Wallis. Reiche und arme Kantone gibt es in beiden Sprachgebieten. Ein kumulativer Konflikt – z. B. der armen, katholischen Romands gegen die reichen, protestantischen Deutschschweizer – konnte sich deshalb nie entwickeln. Vielmehr bilden sich in der Politik Mehrheiten aus unterschiedlichen Koalitionen, die für jedes Problem anders zusammengesetzt sind. Jede Gruppe macht die Erfahrung, in bestimmten Situationen in der Minderheit zu verbleiben. Das fördert neben den institutionellen Einrichtungen des Föderalismus und der proportionalen Machtteilung eine Kultur politischer Rücksichtnahme und Nichtdiskriminierung.

      Waren damit die theoretischen Voraussetzungen für den schweizerischen Integrationsprozess allesamt günstig, so galt dies gerade nicht für den heutigen Kanton Jura. Sein Gebiet repräsentierte eine katholische, Französisch sprechende Minderheit im protestantischen, deutschsprachigen Kanton Bern. Wie bereits erwähnt, ist die Gleichberechtigung der Sprachen und ihr Schutz durch den Föderalismus nur im gesamtschweizerischen Verhältnis gewährleistet. Zwar praktizierte der Kanton Bern kein Assimilationsmodell, sondern anerkannte die Minderheitssprache und räumte dem jurassischen Teil in späterer Zeit auch politische Teilhaberechte ein. Aber wie kaum in einem anderen Gebiet fielen hier konfliktträchtige Segmentierungen zusammen: Der Jura war nicht bloss Französisch sprechend, er war auch katholisch und ein Armutsgebiet an der Peripherie des Kantons. Diese zusammentreffenden Konfliktlinien führten zur ständigen Kumulation von Konflikten unter gleichen Koalitionen, in denen sich der jurassische Kantonsteil benachteiligt fühlen musste. Schliesslich geht der Jurakonflikt auf historische Wurzeln zurück, die weit ins 19. Jahrhundert und früher zurückreichen. Bezeichnenderweise artikulierte er sich als starke Sezessionsbewegung aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Unabhängigkeit der Schweiz von aussen nicht mehr bedroht war und staatliche (Wohlfahrts-)Leistungen wichtiger wurden. Die theoretischen Voraussetzungen der Integration waren also allesamt ungünstig. Die Hypothesen Steiners scheinen demnach recht gut zu erklären, warum der schweizerische Integrationsprozess insgesamt erfolgreich war – aber auch in einem Ausnahmefall misslang.

      Der Jura ist noch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert: Er ist einer der seltenen Fälle, in denen sich auch in der Schweiz eine Ethnisierung der Politik entwickelte. Ein kleiner Teil der jurassischen Separatistenbewegung berief sich nämlich auf die andersartige Ethnie des jurassischen Volkes – in krassem Widerspruch


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