Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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sich selbst gespalten: Sein südlicher Teil war wirtschaftlich stärker, mehrheitlich protestantisch und somit auch kulturell stärker nach Süden (Bern) als Norden (Frankreich) ausgerichtet. Wie die schweizerische Politik mit diesen Problemen umging und bis heute umgeht, wird in Kapitel 7 (Föderalismus) ausführlich behandelt.

      Der sozioökonomische Gegensatz zwischen Kapitaleigentümern und Arbeiterschaft bildet die dritte historische Konfliktlinie in der schweizerischen Gesellschaft. Der Grundkonflikt liegt in der Produktion von gesellschaftlicher Ungleichheit als Kehrseite des wirtschaftlichen Wettbewerbs sowie im Interessengegensatz um Lohn und Arbeitsbedingungen. Dieser Konflikt prägt den Industrialisierungsprozess und die Gesellschaft aller liberalen Demokratien. Auf politischer Ebene hat er als «soziale Frage» in den westeuropäischen Ländern zu einem rechten bürgerlichen und zu einem linken nicht bürgerlichen Lager geführt. Allerdings unterscheidet sich die schweizerische Lösung dieses gesellschaftlichen Konflikts von jener der meisten anderen Länder Europas: Es gab nie einen Machtwechsel zwischen bürgerlichen und nicht bürgerlichen Regierungen wie in vielen Mehrheitsdemokratien, sondern zunächst eine lange Periode des Ausschlusses der politischen Linken aus dem bürgerlichen Staat. Erst spät – nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde auch die wirtschaftlich-soziale Spaltung der Schweiz auf demselben Weg wie die kulturell-sprachlichen Spaltungen gelöst: durch politische Integration. Im Unterschied zu den konfessionellen und sprachlichen Spaltungen gab es im wirtschaftlich-sozialen Konflikt allerdings kaum14 räumliche Segmentierungen – weshalb z. B. der Föderalismus nichts zu seiner Lösung beitragen konnte. Industrialisierung und Leistungsgesellschaft führten jedoch zu neuen sozialen Schichten, die sich hinsichtlich Beruf, Einkommen, Bildung und anderer Statusmerkmale unterscheiden. Von grösserer Bedeutung ist daher die Art und Weise, wie sich diese Schichten sowie die beiden Seiten von Kapital und Arbeit organisierten. Weiter unterscheidet sich der wirtschaftlich-soziale von den konfessionellen und sprachlichen Konflikten dadurch, dass er sich sehr viel stärker mit der wirtschaftlichen Dynamik selbst verändert. Somit ist dieser Konflikt auch volatiler als die eher längerfristig ausgerichteten kulturellen Gegensätze. Seine Entwicklung wird im Folgenden kurz nachgezeichnet.

      Die frühe schweizerische Industrialisierung entlang den Flüssen und ihrer nutzbaren Wasserkraft verlief dezentral. Dies verhinderte die plötzliche Entstehung eines Massenproletariats in den Städten, führte aber wie in anderen kapitalistischen Ländern zu sozialen Spannungen und zur Verarmung einer unterbezahlten, neuen Schicht der Fabrikarbeiter. Die Demokratie verhinderte weder die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeiter noch unmenschliche Arbeitsbedingungen. Der St. Galler Freisinnige Friedrich Bernet meinte dazu: «Die Verfassung von 1848 hat grosse Gewalt, finanzielle und politische, in die Hände weniger gelegt …, aber nur, um die Grossen noch grösser zu machen», während die «bäuerlichen, handwerklichen und Arbeiterschichten in ein gleichförmiges Proletariat absinken.»15

      Zu dieser Zeit existierten weder eine sozialistische Partei noch eine starke Gewerkschaft. Es war ein Flügel des Freisinns, von Gruner (1964:40) als «Staatssozialisten» bezeichnet, welche die Interessen der Arbeiterschichten verteidigten. Sie waren besorgt über die wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten, die in ihren Augen einer modernen Demokratie unwürdig waren. Sie initiierten die ersten Arbeitsschutzbestimmungen und das Verbot der Kinderarbeit. Diese Politik stand in krassem Gegensatz zum Flügel der «Manchester-Liberalen», die jeglichen Eingriff des Staates in den freien Markt unterbinden wollten.

      Diese Auseinandersetzung um die Rolle des Staates bekam schnell eine Wende, die von der Sozialpolitik weg auf die unterschiedlichen Interessen im Unternehmerlager selbst führte. Die exportorientierten Industrieunternehmen forderten Freihandel und wirtschaftspolitische Abstinenz des Staates, das binnenorientierte Gewerbe und die Landwirtschaft dagegen Schutzzölle vor ausländischer Konkurrenz und die Freiheit zur Begrenzung des einheimischen Wettbewerbs. Pragmatisch wurde gegen aussen Freihandel für die Exportwirtschaft und im Innern Schutzpolitik für Bauernschaft und Gewerbe betrieben. Diese Mischung zwischen Liberalismus und Staatsinterventionismus des Unternehmertums blieb kennzeichnend bis in die jüngste Zeit. Sie bildete die Basis für eine wirtschaftspolitische Interessengemeinschaft, die später das bürgerliche Lager von FDP, CVP und SVP zusammenhielt. Im Übrigen stützte sich der Staatsinterventionismus von allem Anfang an auf die Selbstorganisation der Unternehmerschaft. Gewerbe, Handel, Industrie und Landwirtschaft hatten sich früh auf Bundesebene zu starken Verbänden organisiert, die den politischen Parteien und dem Parlament in der Wirtschaftspolitik schon um die Jahrhundertwende das Heft aus der Hand nahmen. Sie prägten die Gesetzgebung und wirkten mit im Vollzug.16 Mit diesem verbandsstaatlichen Muster waren sie in der Lage, ihre Interessen zum Ausgleich zu bringen und den Staat punktuell für ihre Anliegen einzuspannen.

      Anders die Lage der Arbeiterschaft. Zwar hatte sie ein gemeinsames Anliegen: die Verbesserung ihrer wirtschaftlich-sozialen Lage. Die Organisation der Arbeiterschaft stiess zu Beginn allerdings auf Schwierigkeiten, zumal in ländlichen Verhältnissen, wo der Paternalismus die Auswirkungen sozialer Ungleichheit linderte, gleichzeitig aber die eigene Identitätsbildung und Organisation der Arbeiter zu behindern vermochte. Immerhin, nach ihrer Gründung 1888 konnte die Sozialdemokratische Partei (SP) ansehnliche Erfolge verzeichnen. 1894 lancierte sie eine der ersten Volksinitiativen: ein Begehren um «Recht auf Arbeit», das vierzig Jahre vor Keynes ein wirtschaftspolitisches Programm zur Ankurbelung der privaten Nachfrage forderte. Aber die Hoffnungen, mittels der direkten Demokratie soziale Reformen zu erreichen, verflüchtigten sich schnell. In der Volksabstimmung wurde die Vorlage in einem Verhältnis von 4:1 verworfen.

      In den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich die Lage der Arbeiterschaft. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stellen Historiker das Entstehen einer konservativen, nationalistischen, oft auch reaktionären und antidemokratischen Rechten fest, die mit einem «Klassenkampf von oben» zur Radikalisierung der Sozialdemokratie beitrug.17 Politisch marginalisiert durch das Zusammenspannen der bürgerlichen Kräfte, konnten Sozialdemokraten und Gewerkschaften nicht verhindern, dass die Arbeiterschaft den grössten Teil der Last der wirtschaftlichen Rückschläge während und nach dem Ersten Weltkrieg tragen musste. Daran änderte auch der landesweite Generalstreik von 1918 nichts: Auf ein Truppenaufgebot und ein Ultimatum des Bundesrats hin kapitulierte das Oltener Aktionskomitee. Es erreichte zwar den Achtstundentag, ging aber in seinen übrigen Forderungen leer aus.

      In der Folge kam es zur verstärkten Spaltung der schweizerischen Arbeiterbewegung. Während katholische Teile der Arbeiterschaft schon längst in der christlich-sozialen Bewegung mitgingen und sich damit politisch eher ins bürgerliche Lager eingliederten, trennte sich der linke Flügel der SP von der Mutterpartei und schloss sich 1921 mit den Altkommunisten zur Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) zusammen. Die KPS sah sich als revolutionäre Partei und Teil der internationalen kommunistischen Bewegung. Sie zielte auf die Entmachtung der Bourgeoisie, sah in der bürgerlichen Demokratie ein blosses Instrument kapitalistischer Interessen und bekämpfte darum auch den Weg der «reformistischen» Sozialdemokratie. Sie setzte auf einen Klassenkampf, der die gesellschaftlichen Verhältnisse revolutionär umgestalten und die Arbeiterklasse an die politische und gesellschaftliche Macht bringen sollte. Neben häufigen Zwisten kam es indessen auch zu Zweckbündnissen mit den Sozialdemokraten. In Genf und Zürich sowie weiteren Städten konnten Sozialdemokraten und Kommunisten durch gegenseitige Unterstützung regierungsfähige Mehrheiten bilden. Auf Bundesebene erreichten die Kommunisten während der ganzen Zwischenkriegszeit allerdings nie die Stärke und Bedeutung der SP.18 Zunächst schwankend zwischen Integration und Klassenkampf, kamen die Sozialdemokraten ab den dreissiger Jahren auf ihre traditionelle Linie zurück: Ablehnung des Kapitalismus, Bejahung der Demokratie. Die SP verlangte darum proportionale Beteiligung in allen politischen Institutionen und setzte auf demokratische Reformen. Sie strebte eine Mischwirtschaft mit einem starken öffentlichen Sektor an, in welcher der Staat die sozialen Unterschiede ausgleichen sollte. Alles mit wenig Erfolg: Die Bürgerlichen verweigerten der SP trotz vergleichbarer Wahlstärke wie FDP oder CVP den Einsitz im Bundesrat. Das Wirtschafts- und Beschäftigungsprogramm der Sozialdemokraten von 193419 fand beim Volk keine Mehrheit. Stattdessen erliess die bürgerliche Regierung protektionistische


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