Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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brachte Massenarbeitslosigkeit, die 1936 mit 100 000 Stellensuchenden ihren Höhepunkt erreichte. Eine Sozialpolitik gab es kaum. Das soziale Klima war gespannt. Mehrere Streiks von aufgebrachten Arbeitern wurden mit militärischen Mitteln niedergeschlagen.

      Während vier Jahrzehnten schwankend zwischen Klassenkampf und Hoffnung auf Integration,20 blieb der politischen Linken verwehrt, was Katholiken, Romands oder Bauern erreicht hatten: Einfluss im Bundesstaat,21 Teilhabe an der Regierung und Mitwirkung am politischen Kompromiss. Bis zum Zweiten Weltkrieg fand in der schweizerischen Demokratie eine Integration kultureller Minderheiten und die wirtschaftspolitische Beteiligung der Unternehmerschaft aller Wirtschaftszweige statt, aber weder die Integration der Arbeiterschaft in den Staat noch ihre Beteiligung am bürgerlichen Regime.

      Es waren äussere Bedrohungen, die schliesslich zur Integration von Gewerkschaften und Sozialdemokratie führten.

      a. Zur politischen Integration der Linken

      Unter dem Eindruck von Hitlers Diktatur und des Faschismus gab die SP ihre antimilitaristische Haltung auf und stimmte für die Kredite zur Modernisierung der Armee vor Kriegsausbruch. Das vordringliche Ziel der Bewahrung der Unabhängigkeit im Zweiten Weltkrieg liess innere Konflikte in den Hintergrund treten. 1943, als die militärische Bedrohung durch Hitlerdeutschland ihren Höhepunkt überschritten hatte, die Probleme wirtschaftlicher und politischer Isolation sich aber eher vergrösserten, wurde mit Ernst Nobs zum ersten Mal ein Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt. Die einigende Wirkung der Kriegsjahre hielt an; die Sozialdemokraten mässigten ihre Kapitalismuskritik und wurden als gemässigte Reformpartei ab 1959 auf Betreiben der CVP zum gleichberechtigten Regierungspartner. Die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei, die Partei der Arbeit (PdA), verlor dagegen mit ihrer fortgesetzten Klassenkampf-Politik ihren Anhang und wurde im Klima des Kalten Krieges politisch isoliert und diskriminiert. Das Wirtschaftswachstum machte die Zusammenarbeit zwischen Bürgerlichen und Sozialdemokratie zusätzlich attraktiv. Es kam zur grossen Koalition von Freisinn, Christdemokraten, Volkspartei und Sozialdemokratie, in der die Bundesratssitze nach proportionaler Wahlstärke verteilt wurden (Zauberformel). Dies strahlte dann wiederum auf die Verfassungs- und Gesetzgebung aus. Ein breiter wirtschafts- und sozialpolitischer Kompromiss erlaubte den Ausbau des Wirtschafts- und Sozialstaats (siehe Kasten 2.4).

      Damit entwickelte sich das, was in der Schweiz «Konkordanzdemokratie» genannt wird. Dieses Muster politischer Wirtschafts- und Sozialintegration war in den letzten sechzig Jahren zwar mehreren Krisenmomenten ausgesetzt. Es gab Phasen und Bereiche der Polarisierung, in der die Regierungsbeteiligung der SP umstritten war. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus bröckelte der sozialliberale Konsens. Nach ihren Wahlsiegen in den 1990er-Jahren liebäugelte die SVP mit einer rein bürgerlichen Regierung. Veränderte Wahlstärken führten im folgenden Jahrzehnt zum Parteienstreit über Sitzansprüche und personelle Besetzungen im Bundesrat. Nach acht Jahren der Untervertretung der grössten Partei, der SVP, rang sich die Bundesversammlung 2015 wieder zur Besetzung des Bundesrates nach den Regeln proportionaler Vertretung durch (Näheres siehe Kapitel 9 Die Regierung). Der Konkordanzzwang der Volksrechte, der die grossen Parteien zur Zusammenarbeit in der Regierung veranlasst, war stärker als die erhebliche politische Polarisierung und die parteipolitischen Umwälzungen.

      In der Nachkriegszeit, vor allem seit den 1960er-Jahren, weiteten sich die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Staatstätigkeiten stark aus. Auf der einen Seite verstärkte der Bund sein Engagement im Ausbau der Infrastruktur für die Volkswirtschaft (Nationalstrassen und öffentlicher Verkehr, Kernenergie, Telekommunikation, Forschung und Hochschulen) und betrieb Wettbewerbs-, Regional- und Strukturpolitik. Der Staat unterstützte damit das Wachstum der privaten Produktion sowie die Modernisierung der Privatwirtschaft und hatte sich später mit der Umweltpolitik auch um die Beseitigung negativer Wachstumsfolgen zu kümmern. Auf der anderen Seite entbanden die staatlichen Sozialversicherungen die gesamte Bevölkerung vom individuellen Risiko der Krankheit, der Invalidität, des Alters oder der Arbeitslosigkeit. Der Ausbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens erhöhte die Lebenserwartung und verbesserte die Gesundheit sowie das Ausbildungsniveau und die Berufsfähigkeiten der Bevölkerung. Der Wirtschafts- und Sozialstaat erfüllt damit bedeutende Funktionen in der Entwicklung zur schweizerischen Wohlstandsgesellschaft.

      Der Wirtschafts- und Sozialstaat beruht auch in der Schweiz auf einem gesellschaftspolitischen Grundkonsens: Der Staat garantiert den freien Leistungswettbewerb mit privater Gewinnorientierung. Das Wachstum der privaten Wirtschaft und ihre innovative Entwicklung ist das Ziel aller politischen Kräfte, denn es ermöglicht Vollbeschäftigung sowie die Finanzierung der wirtschafts- und sozialstaatlichen Leistungen über Steuern und Abgaben. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten werden sowohl durch steuerliche Massnahmen wie durch die politische Verteilung meritorischer Güter (Bildung, Gesundheit) gemildert.

      Der heutige schweizerische Sozial- und Leistungsstaat ist grösstenteils ein Produkt der politischen Konkordanz seit 1960. Im Zuge des neoliberalen Globalisierungtrends und der Finanzkrise der öffentlichen Hand wurden einzelne Elemente des Sozialstaats zunehmend umstritten. Trotzdem kam es zum weiteren Ausbau. Wies der schweizerische Sozialstaat bis zu Beginn der 1990er-Jahre noch deutliche Parallelen zur Gruppe der liberalen Wohlfahrtsstaaten (USA, Japan) auf (Armingeon 1996a:76), so haben sich die umfangreicheren sozialstaatlichen Leistungen in den letzten 20 Jahren denjenigen anderer europäischer Länder deutlich angenähert (sozialstaatliche Konvergenz).

      b. Zur Sozialpartnerschaft

      Das zweite Element der Integration ist die Herausbildung der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie begann 1937 auf Betreiben des Bundesrats mit einem Vertrag zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften der Maschinenindustrie. Das sogenannte «Friedensabkommen» anerkannte die Gewerkschaften als die Vertreter der Arbeiterschaft, verlangte die Lösung aller Konflikte zwischen den Sozialpartnern auf dem Verhandlungsweg und verbot sowohl Streiks als auch Aussperrungen.22 Nach dem Krieg verbreitete sich das Muster friedlicher, kollektiver Konfliktregelung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite über Gesamtarbeitsverträge (GAV) in den meisten Wirtschaftszweigen. Von den gegenseitigen Vorteilen dieser Sozialpartnerschaft profitierten die Arbeitnehmerinnen mit steigendem Wohlstand vor allem in der Wachstumsphase bis in die siebziger Jahre. Mit der weltweiten Öffnung der nationalen Volkswirtschaften, die der Kapitalseite grosse Mobilitätsvorteile brachte, ist die Position der Gewerkschaften allerdings wie überall schwächer geworden.

      Eine besondere Bedeutung hat die Sozialpartnerschaft in der Schweiz jedoch durch ihre institutionelle Verknüpfung mit der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik erlangt. 1947 wurden, in den sog. «Wirtschaftsartikeln», die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat verfassungsmässig geregelt. In der bis 1999 gültigen Bundesverfassung war in Art. 32 BV ausdrücklich festgehalten, dass die «zuständigen Organisationen» in den Fragen der Wirtschaftspolitik in der Gesetzgebung «angehört» und im späteren Vollzug «zur Mitwirkung herangezogen» werden. Nun war eine solche Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden nichts Neues. Sie existierte, wie bereits erwähnt, seit je, und war in den 1930er-Jahren insbesondere für den Branchenschutz von Gewerbe und Landwirtschaft praktiziert worden. Die Wirtschaftsartikel aber verstärkten diese Zusammenarbeit und verallgemeinerten sie für alle wichtigen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Gewerkschaften, in der Sozialpartnerschaft gleichberechtigte Partner der Unternehmerschaft, wurden nun ebenfalls Partner in der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Staat. Damit näherte sich der schweizerische Verbandsstaat jenem tripartiten Integrationsmuster, das die Politikwissenschaft in vielen europäischen Ländern vorfindet und als «Neokorporatismus» bezeichnet. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass alle wichtigen Konflikte zwischen Kapital und Arbeit durch deren Organisationen und unter Beizug des Staates geregelt werden.

      Mit der Verbreitung dieses Konfliktregelungsmusters in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte man auch die Schweiz als ein neokorporatistisches Land bezeichnen. Allerdings unterscheidet sich der schweizerische Neokorporatismus von demjenigen anderer Länder in vier wichtigen Punkten. Erstens


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