Schweizerische Demokratie. Sean Mueller

Schweizerische Demokratie - Sean Mueller


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Norwegen oder Holland, wo sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmereinfluss ungefähr die Waage halten. Zweitens sind die Wirtschaftsorganisationen der Schweiz dezentral geblieben, und in jüngster Zeit verlagert sich die Regelung der sozialpartnerschaftlichen Konflikte zurück auf die Betriebsebene, womit sich die Rolle des Staates und der Einfluss des neokorporatistischen Integrationsmusters vermindern. Drittens sind verbandsstaatliche Lösungsmuster in allen politischen Aufgabenbereichen anzutreffen und reichen damit über die Politikfelder hinaus, welche die internationale Politikwissenschaft als die Bereiche des Neokorporatismus identifiziert.23 Viertens aber sind mit Beginn der 1990er-Jahre die Interessengegensätze zwischen Binnen- und Exportwirtschaft stärker geworden, und mit der Liberalisierungs- und Privatisierungstendenz kommt es zu einer teils stärkeren Trennung von Wirtschaft und Staat. Beides drängt die korporatistischen Integrationsmuster zurück. Diese Entwicklung zeigt sich auch darin, dass in der neuen Bundesverfassung die Zusammenarbeit mit den Verbänden nicht mehr erwähnt wird.24

      In den vorangehenden Abschnitten haben wir gezeigt, wie in der Schweiz Probleme des Zusammenlebens verschiedener Sprachen und Konfessionen, später auch die Interessengegensätze und Konflikte zwischen Arbeit und Kapital, auf dem Wege politischer Integration gelöst wurden. Diese politische Integration beruhte auf folgenden Regeln und Einrichtungen: dem Verzicht auf Vorrechte einer einzelnen Kultur bei der Gründung des Nationalstaats, den Minderheitenrechten wie der Sprachenfreiheit, der vertikalen Machtteilung des Föderalismus, der proportionalen Beteiligung der Minderheiten und schliesslich der Konkordanzdemokratie. All dies diente dem Ziel, jene nachteilige Auswirkung der Mehrheitsdemokratie zu vermeiden, an denen die Schweiz hätte scheitern können: die dauernde Zurücksetzung und Benachteiligung einzelner struktureller Minderheiten.

      Diese politische Integration war vor allem in der Zeit des Zweiten Weltkriegs wichtig gegen aussen zur Bewahrung der staatlichen Unabhängigkeit. Sie war aber auch bedeutsam nach innen: Die Schweiz ist zu einer pluralistischen Gesellschaft geworden, in der die kulturellen Unterschiede bewahrt bleiben, ohne Anlass zur Diskriminierung zu bilden, und in der alle Gruppen gleiche Chancen auf politische und gesellschaftliche Anerkennung haben. Auf politischer Ebene, aber auch als Zivilgesellschaft mit verhältnismässig wenig Aggression und Gewalt,25 hat die multikulturelle Schweiz Bemerkenswertes erreicht. Ein wichtiger Beurteilungsmassstab für die Qualität des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus liegt aber auch in der Antwort auf die Frage, ob der Staat alle Partikularinteressen gleich behandelt und ob die politische Mehrheit Gesetze erlässt, die Ausdruck verallgemeinerungsfähiger Werte sind. Als solche Werte gelten vor allem: Demokratie, Menschenrechte, Grundrechte und Gleichheit.

      In den 1960er-Jahren schrieb der damalige Rektor der Hochschule St. Gallen und spätere Bundesrichter Otto K. Kaufmann (1965) einen vielbeachteten Beitrag unter dem Titel: «Frauen, Italiener, Jesuiten, Juden und Anstaltsversorgte». Er wies damit auf die wichtigsten Gruppen hin, die im schweizerischen System nicht nur politisch benachteiligt, sondern auch rechtlich in einer Weise behandelt wurden, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht entsprachen. Die rechtlichen Diskriminierungen sind in der Zwischenzeit grösstenteils korrigiert worden.26 Kaufmanns Beitrag weist aber auf ein grundsätzliches Problem hin: dass der schweizerische Integrationsprozess auch seine Kehrseite hat, nämlich gesellschaftlichen Ausschluss und Marginalisierung (Sciarini et al. 1997).

      Während Jahrzehnten wurden zum Beispiel Kinder von Fahrenden, die gängigen Vorstellungen bürgerlicher Ordnung nicht entsprachen, von ihren Eltern getrennt und in «sauberen» Heimen erzogen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden aus militärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen mehr als 20 000 Flüchtlinge an der Schweizer Grenze weggewiesen. Lange entsprachen persönliche Rechte von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kliniken, von Gefangenen oder Verhafteten dem europäischen Rechtsstandard nicht. Während und nach dem Kalten Krieg überwachte die Bundesanwaltschaft unter dem Vorwand des Staatsschutzes nicht nur einige extreme Aktivisten, sondern Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, die lediglich unorthodoxe politische Ideen oder Aktionen unterstützten. Dies zeigt: Die Kehrseite erfolgreicher gesellschaftlicher Integration ist sozialer Druck zur Konformität, den nicht nur Intellektuelle und Schriftsteller spüren.

      Gemessen an den normativen Ansprüchen von Demokratie und gesellschaftlicher Gleichheit, stellt die lange Benachteiligung der Frauen den wohl wichtigsten Tatbestand der Diskriminierung dar. Bis 1971 war die Schweiz eine reine Männer- und damit nur eine halbe Demokratie. Auch die weitere gesellschaftliche Gleichstellung der Frau wurde erst 1981 auf Verfassungs- und 1995 auf Gesetzesstufe zur öffentlichen Aufgabe, also 20–30 Jahre nach den anderen europäischen Ländern oder der Bürgerrechtsbewegung der USA.27 Mit der raschen Beseitigung aller Benachteiligungen der Frau im Bundesrecht konnten viele Rückstände der verspäteten Gleichstellungspolitik aufgeholt werden (Ballmer-Cao/Benedix 1994). Die Schweiz liegt bezüglich der Frauenrepräsentation in den politischen Institutionen international im oberen Mittelfeld; die Frauenmehrheit in einer Exekutive bleibt die Ausnahme, die immer noch grosses Aufsehen erregt. Hingegen hinkt die Gleichstellung der Frauen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich hinterher, wie die regelmässig erscheinenden Berichte des Bundesamtes für Statistik aufzeigen. In seiner Botschaft vom Oktober 2016 spricht der Bundesrat (2016b:2) von durchschnittlich 678 Franken pro Monat, die Frauen in der Privatwirtschaft weniger verdienen als Männer und die sich «nicht durch objektive Faktoren wie Alter, Ausbildung, Dienstjahre oder durch die ausgeübte Tätigkeit» erklären lassen.

      Zum politisch virulentesten Integrationsproblem haben freilich die Beziehungen zwischen der einheimischen und der ausländischen Wohnbevölkerung sowie den Flüchtlingen aus der weltweiten Migration geführt. Seit den 1950er-Jahren verlangten verschiedenste Wirtschaftsbranchen den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Diese kamen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, später aus Spanien, Portugal, Jugoslawien und der Türkei. Mit den Freizügigkeitsabkommen von 2007 und 2009 erhielten Arbeitskräfte aus dem gesamten EU-Raum freien Zugang zum schweizerischen Arbeitsmarkt. Das hat die Zuwanderung verstärkt, auf durchschnittlich 81 000 Personen netto pro Jahr für die Periode von 2007 bis 2015 (BFS 2016a).28 Bezogen auf die einheimische Bevölkerung, sind das zum Teil höhere Zuwanderungsraten als diejenigen klassischer Einwanderungsländer wie Australien oder Kanada. Insgesamt lebten 2015 rund 2,1 Millionen oder knapp 25 % Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz. Die Schweiz ist also zu einem Einwanderungsland geworden.

      Hinzu kommt die Einwanderung von Flüchtlingen. Viele von ihnen sind Opfer einer innerstaatlichen Verfolgung, von kriegerischen Gewaltereignissen oder von Naturkatastrophen. Sodann gibt es einen beträchtlichen Anteil von Asylsuchenden, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen. Diese Süd-Nord-Migration beruht vor allem auf dem Produktivitätsgefälle zwischen reichen und armen Ländern, das bis 250:1 betragen kann und in der Geschichte noch nie so hoch war wie heute. Wer in einem Land Afrikas ein Jahr lang arbeiten muss für das, was in Europa in einem Tag verdient werden kann, hat Grund auszuwandern, auch wenn er weder eine Einreisebewilligung noch einen Job in Aussicht hat. Diese Armutsflucht wird ohne wirtschaftlichen Nord-Süd-Ausgleich auf absehbare Zeit nicht verschwinden. «Either poor countries will become richer, or poor people will move to rich countries», so das Fazit des Ökonomen Branko Milanovic. Politische wie Armutsflüchtlinge haben auch in der Schweiz zu einer starken Zunahme von Asylsuchenden geführt. So bilden heute Asylsuchende einen erheblichen Teil der Zuwanderung. Im Jahre 2015 stellten knapp 40 000 Personen ein Asylgesuch – so viele wie seit 1998/9, dem Höhepunkt des Kosovo-Krieges, nicht mehr. Ein Sechstel der Gesuche wurden im gleichen Zeitraum bewilligt; rund 8000 Personen erhielten eine vorläufige Aufnahme. Die amtliche Statistik weist per Ende 2015 knapp 70 000 Personen im Asylprozess aus (BFS 2016a).

      Probleme des Zusammenlebens zwischen Einheimischen und Zugewanderten erwiesen sich seit Beginn einer grösseren Zuwanderung seit den 1960er-Jahren als unausweichlich: Konflikte am Arbeitsplatz, unterschiedliche Mentalitäten und Lebensweisen, geringes gegenseitiges Verständnis europäischer und aussereuropäischer Kultur, Minderheitssituationen von Schweizern in der Schule oder am Arbeitsplatz bargen zunehmend sozialen Sprengstoff. Die Frage der sozialen Integration der Zugewanderten wurde während langer Zeit verdrängt. In den 1970er-Jahren entstanden


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