Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
im europäischen Raum in der Regel ein Innovationsprogramm, das auf Veränderung und Problemlösung in der Schul- und Unterrichtspraxis zielt (Creemers, Stoll, Reezigt & the ESI Team, 2007) und in etwa dem deutschen Begriff der «Schulentwicklung» entspricht.
In die Überlegungen, wie Schulen reformiert, und damit, wie Programme der Schulentwicklung lanciert werden können, fliessen verschiedene Perspektiven und Theorien ein. In den Anfängen lag der Fokus in erster Linie auf Aspekten der Organisation und des Klimas.2 Dabei wurde insbesondere auf folgende Theorien und Praxen Bezug genommen:
die Organisationstheorie und Praxen der Organisationsentwicklung (Dalin, 1986; Horster, 1991; Rolff, 1991; Landwehr, 1993),
das Konzept der «lernenden Organisation» (Argyris & Schön, 1978; Schley, 1998),
beim europäischen Effective School Improvement Project ESI zusätzlich Curriculumtheorien, sozialpsychologische Konzepte und Theorien des Human Ressource Managements (Creemers et al., 2007).
Es besteht die Erwartung, dass diese Theorien und Praxen für den komplexen Prozess der Schulentwicklung, wo Unterrichtsfragen, die Organisation der Schule und das Verhalten der Beteiligten zusammentreffen, unterstützende Konzepte bereitstellen (ebd.). Der Kern dieser Perspektiven liegt in der breiten Wahrnehmung der Tatsache, dass Schulen soziale Organisationen sind, in denen es dynamische Wechselwirkungen zwischen der Organisation, dem Verhalten ihrer Mitglieder und damit auch den Schulergebnissen gibt (Hopkins, Stringfield, Harris, Stoll & Mackay, 2014).
Dazu gesellen sich bildungspolitische transnationale Einflüsse zu Fragen der Steuerung der Schule mit der Idee der Outputsteuerung (Cedefop, 2009) und Entbürokratisierung, dies etwa durch verschiedene Varianten des «New Public Management» (NPM).3 Damit verbunden sind auch Bewegungen, die unter dem Begriff der Dezentralisierung zu fassen sind (OECD, 1989; Liket, 1993). Über neue Steuerungsmodelle der Verantwortungsteilung wird auch dem Staat eine neue Rolle zugewiesen. Dezentralisierung als die Übertragung neuer Zuständigkeiten auf lokale Ebenen wird dabei durch eine heterogene politische Rhetorik begründet. Gesprochen wird etwa von der Unterstützung lokaler Unterschiede, grösserer Partizipation, Demokratisierung und lokaler Schulautonomie. Damit verbunden wird die Erwartung an eine Entwicklung der Schulqualität und -effektivität (van Zanten, 2005). Als Ergebnis davon wurden in der Schweiz die Führungs- und Organisationsprozesse über die verschiedenen Ebenen des Bildungssystems – interkantonale, kantonale, Gemeinde- und Schulebene – neu konfiguriert (Huber, 2016; Criblez, 2008). Mit der deutlichen Annahme der revidierten Bildungsartikel in der Bundesverfassung durch das Stimmvolk 2006 bleiben zwar die Kantone für das Schulwesen zuständig, sie werden jedoch zu einer «Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen» (Artikel 62, Absatz 4, Schweizerische Eidgenossenschaft, 1999) verpflichtet, was zu einer Stärkung der Bedeutsamkeit der interkantonalen Ebene beiträgt (siehe auch Beitrag 2, Kapitel 8). Das kann neben der Dezentralisierung als die schweizerische Form einer Parallelstrategie, der Zentralisierung, gesehen werden. An der zunehmenden Bedeutung von Bildungsstandards und zentralen Lernstandserhebungen zeigt sich das Interesse, zentral den Bildungserfolg über die Ergebnisse des Bildungssystems, seinen Output, zu kontrollieren (das sogenannte «Monitoring»; Berkemeyer & Bos, 2015). Die neuen Lehrpläne, der Lehrplan 21 benannt nach der Anzahl Deutschschweizer Kantone, der Plan d’études romand für die französischsprachigen Kantone, sind Produkte dieser bildungspolitischen Entwicklungen. Erstmals wurden damit im föderalistischen Bildungssystem der Schweiz auf interkantonaler Ebene durch die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz beziehungsweise die Conférence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin sprachregionale und nicht kantonale Lehrpläne für die Volksschule verfasst, die sich zudem an den nationalen Bildungsstandards ausrichten. Sie nehmen damit die «Harmonisierung» der «Ziele der Bildungsstufen» auf, wie sie der Bildungsartikel in der Bundesverfassung vorgibt.
Das Konzept einer vermehrten lokalen Schulautonomie beinhaltet, Schulleitungen mit grösseren Zuständigkeiten auszustatten. In der Folge wurden in der Schweiz fast flächendeckend «geleitete Schulen» eingeführt (Maag Merki & Büeler, 2002). Die Profession der Schulleitung hat sich etabliert und die Trennung von strategischen und operativen Führungsaufgaben ist erfolgt. Damit zielte man darauf, Entscheidungen rascher, wirksamer und damit auch effizienter am Ort des Geschehens zu treffen (Dubs, 1996).
Effekte von Schulleitungen
Die Schulleitungsforschung hat denn auch gezeigt, dass das Schulleitungshandeln für die Entwicklung der Schule bedeutsam ist. Zusammenfassend meint Bonsen (2016), dass Schulleitungen zwar keine direkten Wirkungen auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler haben, dass sich «aber kleinere positive indirekte Effekte der Führung auf die Lernzuwächse» zeigen (ebd., S. 308). Das Führungshandeln steht in einer Wechselwirkung mit Aspekten der Umgebung und der Fähigkeit der Schule zur Entwicklung. Es ist abhängig von organisationalen Bedingungen, um wirksam zu werden. Das heisst, dass die Schulleitung nicht einfach Bedingungen und eine entsprechende Schulkultur schafft, die dann wiederum auf die Schuleffektivität wirken, sondern die Schulleitung wird in ihrem Handeln selbst beeinflusst durch die Gegebenheiten vor Ort (Hallinger & Heck, 2010; Bonsen, 2016).
Nimmt man die Veränderung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler als Massstab für positive Wirkungen, ist die Förderung von und Teilnahme an Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung und Unterrichtsentwicklung als eine von fünf Dimensionen von Führungshandeln diejenige mit der grössten Effektstärke. Sie weist auf die Bedeutung der Schulleitenden als «leading learners» für bessere Schülerinnen- und Schülerleistungen hin (Robinson, Lloyd & Rowe, 2008). «Leading learners» oder unterrichtswirksame Schulleitungen betonen im Kollegium die Unterrichtsqualität und fördern die unterrichtsbezogene Kooperation der Lehrpersonen sowie die berufsbegleitende Professionalisierung (Bonsen, 2009) beziehungsweise die Weiterbildung. Auch die weiteren Dimensionen des Schulleitungshandelns – Ziele und Erwartungen etablieren, Ressourcen strategisch einsetzen, Planen, Koordinieren und Evaluieren von Unterricht sowie Sicherstellen einer unterstützenden Umgebung – sind nicht nur bedeutsam für die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler, sondern auch für das Lernen der Lehrpersonen. Sie bestimmen die Arbeitsbedingungen wesentlich mit, die für die berufliche Entwicklung der Lehrpersonen relevant sind (Louws, Meirink, van Veen & Van Driel, 2016; Bredeson & Johansson, 2000).
Im vorliegenden Fall einer Lehrplaneinführung gilt jedoch auch: Staatliche Reformen haben für Schulleitungen ein Management-Dilemma zwischen Implementation äusserer Anforderungen und der Entwicklung schuleigener Verbesserungen mit den daraus abzuleitenden Massnahmen zur Folge (Bolam, 2002). Insbesondere die englischsprachige Literatur und Forschung verweist darauf, wie wichtig Kommunikation und «Sinngebung» seitens der Schulleitung für die Umsetzung der Reform sind. Der Schulleitung obliegt es,
die angestrebten Ergebnisse und spezifischen Handlungen zu deren Erreichung zu artikulieren,
auf diejenigen Einfluss zu nehmen, die diese Arbeit tun (Cosner, 2011).
Die Informationen und die Wortwahl beeinflussen das Verständnis der Reformfolgen und -ergebnisse und unterstützen die Umsetzung dann, wenn sie
die zugrunde liegenden Prinzipien der Reform adressieren, aber konkreten Alltagsbezug haben und es nicht bei oberflächlichen Aspekten der Reformarbeit belassen;
an bestehendes Wissen der Lehrpersonen über die Reform und ihre Kompetenzen anknüpfen und beides einbeziehen (ebd., S. 572).
Diese Anforderungen machen deutlich, dass Schulleitungen idealerweise nicht nur die Reform selbst, sondern auch Umsetzungsmöglichkeiten auf der Ebene des alltäglichen Handelns der Lehrpersonen sowie die Voraussetzungen der Lehrpersonen der Schule kennen, um umsetzungsunterstützend zu kommunizieren. Für die Einführung des Lehrplans 21 im Kanton Bern würde das bedeuten, dass die Schulleitungen nicht nur den Lehrplan zumindest in seinem grundsätzlichen Lern- und Unterrichtsverständnis kennen, sondern auch eine Vorstellung