Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
Perspektive steht für Prozesse von Lehrpersonen, die als Lernprozesse zu sehen sind. In einem solchen engeren Sinn ist Unterrichtsentwicklung «die ureigenste Aufgabe jeder Fachperson, die unterrichtet» (Kyburz-Graber, 2004, S. 12) und ihre alltägliche Unterrichtsarbeit optimiert. Auch Unterrichtsentwicklung in einem breiteren Sinn, verstanden als eine «Intervention», sehen die Lehrpersonen selbst, vertreten durch ihren Dachverband, grundsätzlich als selbstverständlich an: Eine regelmässige Weiterbildung zur Erhaltung und Weiterentwicklung einer «wirksamen Berufsausübung» (LCH Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, 2008) ist wichtig. Das lässt sich auch daran ablesen, dass die Weiterbildung, wenn auch im Schatten der Grundausbildung, schon immer ein Thema im Zusammenhang mit Diskussionen um notwendige Veränderungen und Reformen der Schule war und vor allem auch von den Lehrpersonen selbst als solches eingebracht wurde (Balmer, 2018a). Lehrpersonen anerkennen auch die Notwendigkeit eines Weiterbildungsobligatoriums in spezifischen Fällen wie bei der Einführung von neuen Lehrplänen und Lehrmitteln (ebd., Landert, 1999).
3.1 Bedeutung der Lehrpersonen
Mit dem erhöhten Interesse der Öffentlichkeit, der Bildungspolitik und der Forschung am Unterricht verschiebt sich der Fokus auf die den Unterricht gestaltenden Lehrpersonen. Es wurde auch bildungspolitisch breit anerkannt, dass die Lehrpersonen die wichtigste Ressource für Veränderungsprozesse in der Schule sind (OECD, 2005; Barber & Mourshed, 2007; Tatto, 2008). Für die Akademie der Wissenschaften der Schweiz ist «eine gut ausgebildete, motivierte und motivierende Lehrerschaft […] einer der wichtigsten Bausteine jedes Bildungssystems. Nicht zuletzt von ihr hängt die Qualität der Bildung zukünftiger Generationen ab» (Akademie der Wissenschaften Schweiz, 2009, S. 17). Die Europäische Union will auf die Unterrichtsqualität als Schlüsselvoraussetzung für eine qualitativ hochstehende Bildung fokussieren und verweist auf die Bedeutung der lebenslangen Weiterbildung der Lehrpersonen angesichts der Komplexität des Berufes und der raschen gesellschaftlichen Veränderungen (Caena, 2011). Ein weiteres Indiz für die erhöhte bildungspolitische Aufmerksamkeit für die Lehrpersonen ist die 2007 bis 2008 erstmals durchgeführte OECD-Studie Teaching and Learning International Survey (TALIS), die Aspekte der Weiterbildung, Überzeugungen und Praktiken sowie der Beurteilung und Arbeitsbedingungen von Lehrpersonen international vergleichend untersucht (OECD, 2009).5
Weitere empirische Evidenzen liefert die viel rezipierte Hattie-Studie, die der Lehrperson und ihrem Unterricht eine überragende Rolle für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler zuschreibt (Hattie, 2009; Brühwiler, Helmke & Schrader, 2017). Bildungsökonomisch wird mit Daten aus den USA festgestellt, dass Lehrpersonen «bleibende Werte schaffen», weil sie zudem auch «langfristige Auswirkungen auf ihre Schüler [haben]» (Chetty, Friedman & Rockoff, 2014, S. 2).
3.2 Lehrpersonen lernen – auch in informellen Kontexten
Berufsbiografische und Expertenforschung haben darauf hingewiesen, dass sich das Wissen und Können von Lehrpersonen im Beruf entwickelt (Shulman, 1986; Messner & Reusser, 2000). Sie lernen jedoch nicht nur im Kontext von formalen Lerngelegenheiten wie einem Weiterbildungskurs, sondern auch in informellen Kontexten und am Arbeitsplatz während der alltäglichen Arbeit. Tynjälä (2008) fasste aus verschiedenen Studien Arten des Lernens am Arbeitsplatz zusammen. Die meisten entsprechen Lernen in informellen Kontexten:
1 während der Arbeitsausübung;
2 durch Zusammenarbeit und Kooperation mit Kollegen und Kolleginnen;
3 durch die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern;
4 durch das Übernehmen von Herausforderungen und neuen Aufgaben;
5 durch die Reflexion und Evaluation der eigenen Arbeit;
6 durch formale Lerngelegenheiten wie Weiterbildungen
7 in Kontexten ausserhalb der Arbeit.
Lehrpersonen geben sogar an, vor allem in informellen Kontexten zu lernen (vgl. z.B. Dunn & Shriner, 1999; Kwakman, 2003; van Eekelen, 2005; Kunz Heim, Trachsel, Rindlisbacher & Nido, 2007). Das tun sie auch im Vergleich zu anderen (akademischen) Professionen umfangreich (für Deutschland vgl. Heise, 2009; für die Schweiz Balmer, 2013). Für die Schweiz liefert beispielsweise Landert (1999) weitere Indizien: Lehrpersonen nennen selbstorganisierte «individuelle Weiterbildung» in ihrer Bedeutung viermal häufiger als die institutionelle. Selbstbestimmte individuelle Studien, in zwei Umfragen mit «Eigene Studien» bezeichnet, werden sowohl Mitte der 1990er-Jahre wie auch rund 15 Jahre später bei einer repräsentativen Umfrage im Kanton Bern von rund 50 Prozent der Lehrpersonen als Gründe genannt, warum sie nicht mehr Weiterbildungsangebote besuchten (Landert, 1999; Balmer, 2011). Im Rahmen der TALIS-Befragung von 2008 (Teaching and Learning International Survey) berichten Lehrpersonen, dass neben qualifizierenden Programmen und individueller oder kollaborativer Forschung informelle Dialoge zur Verbesserung des Unterrichts die grösste Wirkung auf ihren Unterricht haben (OECD, 2009).
3.3 Berufserfahrung bedeutet nicht, Expertise entwickelt zu haben
Allerdings wird das berufliche Wissen und Können nicht einfach mit den Jahren beiläufig erworben. So gibt es bisher keine Studie, die zeigen würde, dass mit den Erfahrungsjahren einer Lehrperson die Lernwirksamkeit ihres Unterrichts zunimmt (Stern, 2018). Auch hängt das fachliche und fachdidaktische Wissen von Lehrpersonen nicht mit der Berufserfahrung zusammen. Jüngere und ältere Lehrpersonen unterscheiden sich nicht systematisch in ihrem Wissen (Brunner et al., 2006). Das verweist auf bedeutsamere Faktoren als die «Erfahrung» für das Lernen der Lehrpersonen und die Entwicklung ihrer Expertise. Allerdings zeigt die Expertiseforschung auch, dass sie sich erst durch die beruflichen Erfahrungen entwickelt, sie ist also nach der Grundausbildung noch nicht gegeben. Daraus lässt sich folgern, dass sie wesentlich von der einzelnen Person, ihrem Arbeitskontext und der bewussten Nutzung von Lerngelegenheiten abhängig ist.
3.4 Lehrpersonenlernen
Aus der empirischen Tatsache, dass Lehrpersonen unterschiedlich effektiv unterrichten und über unterschiedliches fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügen, kann geschlossen werden, dass sie unterschiedlich und Unterschiedliches lernen. Das Lernen der Lehrpersonen ist ein komplexer Prozess, der sowohl individuell wie kollektiv die kognitive, motivationale und emotionale Beteiligung erfordert, um geeignete Alternativen für die Verbesserung oder Veränderung innerhalb bestimmter bildungspolitischer Umgebungen oder Schulkulturen zu prüfen und umzusetzen (Durksen, Klassen & Daniels, 2017). Soziokulturelle Theorien, von denen es viele Varianten gibt (situiert, sozialkonstruktivistisch, sozialkognitiv, aktivitätstheoretisch), verstehen Lernen nicht nur als individuelle Informationsverarbeitung, sondern als einen sozial und kulturell eingebetteten Prozess, in dem kognitive, motivationale und emotionale Faktoren zusammenwirken. Lernen von Lehrpersonen ist kontextuell, also durch den Arbeitskontext mitbeeinflusst (Lohman & Woolf, 2010; Webster-Wright, 2009; Geijsel, Sleegers, Stoel & Krüger, 2009; Ropo, 2004; Lohman, 2000). Das heisst, auch die Arbeitsbedingungen, die Schulleitung, die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sowie die Kolleginnen und Kollegen haben Einfluss darauf, wie und was gelernt wird. Für den individuellen beruflichen Lernprozess spielt es also eine Rolle, in welcher Schule man unterrichtet. Einerseits bestimmt dieser externe Interaktionsprozess mit der sozialen und materiellen Umgebung, was Lehrpersonen lernen. Andererseits ist es der interne Prozess der Aneignung und Verarbeitung. Das heisst, dass die Art, wie Lehrpersonen eine Situation wahrnehmen und verarbeiten, sowie ihre Interaktionen mit der Umgebung bestimmen, ob und wie Situationen genutzt werden und Lernaktivitäten entstehen, welche das professionelle Wissen und Können erweitern oder vertiefen und in der Folge zu verändertem Verhalten und Ergebnissen führen können (Hoekstra, Korthagen, Brekelmans, Beijaard & Imants, 2009; Illeris, 2006).
Diese Vorstellung des Lernens entspricht der ökologischen Sicht, dass Verhalten aus den laufenden Interaktionen des Individuums mit seiner näheren und weiteren Umgebung, seinen Zielen und Aufgaben entspringt (Keay, Carse & Jess, 2019; Bronfenbrenner, 1979). Expertise, lässt sich daraus folgern, entwickelt sich durch die dynamische Interaktion von persönlichen Faktoren, der Beziehung zwischen der Lehrperson (mit einer bestimmten Geschichte