Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
negative Emotionen eine Facette eines einsetzenden Lernprozesses sind, zum Beispiel die «kognitive Dissonanz» (Festinger & Irle, 2012) oder im Rahmen von Theorien des Conceptual Change die «Unzufriedenheit» mit Aspekten des eigenen Unterrichts oder allgemeiner einem bestehenden Konzept (Thorley & Stofflett, 1996; Gess-Newsome et al., 2003).
Im Lehrberuf kommt hinzu, dass er grundsätzlich durch Unsicherheitsfaktoren gekennzeichnet ist. Häufig genannt werden etwa der Mangel an standardisiertem beruflichem Wissen, die hohe Variabilität und Unvorhersehbarkeit von Unterrichtsstunden und die Unsicherheit, welchen Anteil man am Erfolg oder Misserfolg der eigenen Schülerinnen und Schüler hat, weil man ihn im Verhältnis zum Einfluss des Kontextes (Eltern, Freundeskreis, soziale Lage etc.) kaum verlässlich einschätzen kann (Soltau & Mienert, 2010). Balanceakte wie das Abwägen von Bedürfnissen einzelner Schülerinnen und Schüler gegenüber den Bedürfnissen der grösseren Gruppe sind ein weiterer berufsimmanenter Unsicherheitsfaktor (Helsing, 2007). Wenn Unsicherheit eine berufliche Konstante ist, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass mit Unsicherheit auf die Nachricht reagiert wird, dass nun mit dem Lehrplan 21 ein entsprechender Unterricht angeboten werden soll, der den Schülerinnen und Schülern die darin beschriebenen Kompetenzen erwerben lässt.
4.3 Modell zur Erklärung von Reaktionen auf die Reformnachricht und Folgen für das Lernen
Gregoire (2003) liefert ein in seinen Grundzügen empirisch bestätigtes Modell, wie man sich das Zusammenspiel kognitiver, motivationaler und emotionaler Voraussetzungen bei der Lehrperson angesichts einer Reform vorstellen kann und welche Folgen sie zeitigen können (siehe Abbildung 1.2). Je nach Einschätzung der eigenen Betroffenheit von dieser Reform kann eine Lehrperson bei einem Nein dazu freundlich-positiv oder neutral, bei einem Ja mit Stress, Unsicherheit oder zumindest mit offenen Fragen reagieren. Im Fall eines freundlich-positiven oder neutralen Neins auf die Frage nach der eigenen Betroffenheit ist es wahrscheinlich, dass die Reformfolgen eher oberflächlich bearbeitet werden, weil die Motivation für eine vertiefte Auseinandersetzung fehlt. Weil man sich als nicht betroffen ansieht, verbleibt der Fokus auf anderem. Die in Kapitel 4.1 genannten Typen der «Wissenden» – die im vorliegenden Fall bereits behaupten, kompetenzorientiert zu unterrichten – und der «Desinteressierten» dürften die eigene Betroffenheit von der Reform als gering eingeschätzt und mit einer eher oberflächlichen Auseinandersetzung reagiert haben.
Den Stress im Fall der Betroffenheit sieht Gregoire (2003) in Anlehnung an Lazarus und Folkman (1984) als ein Ungleichgewicht zwischen personenseitigen Ressourcen und Anforderungen der Umwelt. Ob nun dieser Stress motiviert bewältigt wird, hängt von der Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber den Reformanliegen ab, also dem Grad der subjektiven Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können (Jerusalem, 2005). Wenn Lehrpersonen starkes Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, kompetenzorientierten Unterricht umsetzen zu können, dann postuliert das Modell, dass sie die Situation als eine Herausforderung wahrnehmen. Bei schwach ausgeprägter Selbstwirksamkeitserwartung erscheint das Reformanliegen als Bedrohung. Gregoire (2003) meint aber, dass die Überzeugung, die Anforderungen der Reform bewältigen zu können, allein nicht reicht, um sie nicht als Bedrohung zu empfinden. Zusätzlich muss auch die Fähigkeit vorhanden sein, sie umzusetzen. Die professionelle Kompetenz (z.B. fachdidaktisches, fachliches und pädagogisch-psychologisches Wissen und Können), aber auch externe Ressourcen (Zeit, unterstützende Rahmenbedingungen in der Schule) müssen in genügendem Ausmass vorliegen, um die Reform als Herausforderung ansehen zu können. Der emotionale Zustand einer Lehrperson entsteht aus dem hoch individuellen Zusammenwirken dieser internen und externen Ressourcen.
Wenn das Reformanliegen als Bedrohung empfunden wird, folgen Vermeidungsstrategien, die höchstens zu einer oberflächlichen Auseinandersetzung damit und im besten Fall zu oberflächlichen Überzeugungsveränderungen führen. Wenn hingegen eine Herausforderung gesehen werden kann, findet wahrscheinlich eine Annäherung statt, die ein systematisches Bearbeiten ermöglicht. Sofern dieser Prozess einen Ertrag für die Lehrperson abwirft, kann er zu einer Konzeptänderung («Conceptual Change») und damit wahrscheinlich auch zu Handlungsveränderungen führen.
Abbildung 1.2: Das kognitiv-affektive Modell von Konzeptänderungen (Gregoire, 2003)
Das Modell und die Bedingungen für eine Unterrichtsentwicklung beziehungsweise das Lernen von Lehrpersonen verweisen darauf, dass ein gewisses Mass an «Stress», das heisst Unsicherheiten, lern- oder innovationsförderlich sein kann. In Anlehnung an Schüsslers These zu nachhaltigem Lernen Erwachsener kann gefolgert werden, dass dadurch notwendige Irritationen vorhanden sein dürften und ein Weiterbildungsangebot sie reflexiv verarbeiten sollte mit dem Ziel, «biografische Kohärenz» wiederzugewinnen (Schüssler, 2008). Der Lernprozess mit den gewünschten Effekten stellt aber nicht automatisch einen Selbstläufer dar. Im Gegenteil, Reformen scheitern auch oder werden zumindest nicht genau gemäss der Reformabsicht umgesetzt (Tyack & Tobin, 1994).
4.4 Reformhindernisse
Ein neuer Lehrplan wie letztlich «alle Schulreformen stellen einen bildungspolitischen Versuch dar, gezielt Änderungen des Lehrer/-innenhandelns hervorzurufen» (Bosche & Lehmann, 2014, S. 246).
Die Handlungsbedingungen, -koordinationen und -ergebnisse auf den verschiedenen Systemebenen beeinflussen die Umsetzungsbemühungen auf komplexe, interaktive Weise und nicht nur die Wahrnehmung der Reform und die Reaktion darauf durch die einzelne Lehrperson. Der Forschungsansatz der Educational Governance spricht von den sozialen Prozessen der Handlungskoordination im Mehrebenensystem der Bildung (vgl. Altrichter & Maag Merki, 2009). Sie sind eine Erklärung, warum bei einer Reform nicht von einem linearen Durchgriff von oben gegen unten gesprochen werden kann. Auch gelten traditionelle Normen und Regelungen zu Struktur und Organisation von Schule und Unterricht, die von Tyack und Tobin (1994) als die «Grammatik der Schule» bezeichnet wurden und als rahmende Faktoren für die Unterrichtsgestaltung grundsätzlich wirken. Sie sind gerade auch für eine unterrichtsbezogene Reformumsetzung wie im vorliegenden Fall präsent. Dazu werden etwa die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler (traditionell in Jahrgangsklassen) und der Zeit (Lektionen und Pausen), die Durchführung des Unterrichts in Fächern, Lektionentafeln und die Notengebung gezählt.
Mit Kennedy (2006, S. 12ff.) lassen sich aus der Perspektive der Lehrperson weitere Gründe für Reformhindernisse vermuten:
1 Lehrpersonen brauchen mehr Wissen oder Anleitung, um ihre Praxis zu verändern (vgl. auch Penuel, Fishman, Gallagher, Korbak & Lopez-Prado, 2009). Am Beispiel der Bildungsstandards wird etwa eine «Technologielücke» zwischen den Standards und ihrer Nutzung durch die Lehrpersonen für die Gestaltung des Unterrichts festgestellt (Specht & Freudenthaler, 2008, S. 300). Das häufige Fehlen von adäquaten Lehrmitteln beziehungsweise Schulbüchern kann aufgrund ihrer Funktion als Leitmedium der Unterrichtsplanung und -durchführung (Hofmann & Astleitner, 2010; Oelkers, 2009a) ebenfalls dieser Kategorie von Schwierigkeiten zugerechnet werden, weil gerade ihre Kohärenz mit der Reformabsicht wichtig wäre (Fortus & Krajcik, 2012). Ihr Beitrag zum Gelingen einer Reform ist jedoch nicht eindeutig, weil er sowohl von der Qualität des Materials als auch von dessen Nutzung durch die Lehrperson und die Schülerinnen und Schüler abhängt (Ball & Cohen, 1996; Marco-Bujosa, McNeill, González-Howard & Loper, 2017).
2 Lehrpersonen haben Überzeugungen und Werte, die sich von denjenigen der Reformer unterscheiden. Jedoch rechtfertigen sie damit ihre eigene Praxis (vgl. auch Gräsel, Jäger & Wilke, 2006b). Beispielsweise haben sie vielleicht eher transmissive Überzeugungen, die Lernen als eine Vermittlung verstehen, und nicht konstruktivistische, die im Lernen eine eigentätige Konstruktion sehen, wie sie hinter dem Lehr-Lern-Verständnis des Lehrplans 21 stehen und die sich «tendenziell positiv (vs. transmissive negativ) auf lern- und motivationsrelevante Merkmale der Unterrichtsgestaltung auswirken» (Reusser, Pauli & Elmer, 2011, S. 483). Je grösser der Unterschied zwischen den Absichten einer Reform und den Überzeugungen der Lehrperson ist, desto mehr Zeit und Unterstützung sind für ihre Veränderung notwendig (Levin & Nevo, 2009).
3 Lehrpersonen haben