Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
über Ideen und Material verbunden mit dem Unterricht zu initiieren. Borko (2004) stellt aber fest, dass Diskussionen, die die kritische Überprüfung des Unterrichts unterstützen, relativ selten sind. Weiterbildner und Weiterbildnerinnen müssten deshalb die Lehrpersonen unterstützen, Vertrauen zwischen ihnen sowie zur dozierenden Person aufzubauen und Kommunikationsnormen zu entwickeln, die einen kritischen Dialog ermöglichen. Zudem müssten sie die Balance zwischen Respekt gegenüber den einzelnen Gruppenmitgliedern und ihrer Unterrichtsgestaltung sowie dem kritischen Analysieren von Aspekten ihres Unterrichts halten (ebd., S. 7). Das Ermöglichen eines kritischen Dialogs ist ein zentraler Faktor für die Effektivität der Zusammenarbeit und hängt auch direkt mit den Beziehungen der Lehrpersonen untereinander zusammen (Zembylas & Barker, 2007). Das verweist auch auf eine zusätzliche Herausforderung für die angebotsseitige Gestaltung schulinterner Lerngelegenheiten: Ihre Nutzung hängt nicht nur von der einzelnen Lehrperson ab, sondern auch von den an einer Schule vorherrschenden Realitäten und den bisherigen gemeinsamen Lernerfahrungen. Diese auch zwischen den Zeilen wahrzunehmen, die Dynamiken und das Klima in der Schule beiläufig zu analysieren, mit den unterschiedlichen Reaktionen auf die Reformnachricht umzugehen, allenfalls mit Einzelnen oder der Gruppe Aufträge, Ziele oder sogar die Sinnhaftigkeit der Weiterbildungsmassnahme zu verhandeln, dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und trotzdem die Lehrpersonen ihren Weg gehen zu lassen, sind idealtypische Anforderungen an die Dozierenden in der Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung. Das erfordert von ihnen, mit Perrenoud (1996), sicherlich Tugenden wie Geduld, Toleranz und Empathie, aber auch eine Analysekompetenz, die zum Beispiel davon ausgeht, dass Widerstände selten irrational sind und ihre psychosozialen oder unterrichtsbezogenen Hintergründe herauszuarbeiten weiss. Kenntnisse der Lernspezifitäten Erwachsener (vgl. z.B. Schellhammer, 2017, S. 21–22) wie auch ein vertieftes fachdidaktisches Wissen dürften zur Genauigkeit der Einschätzung der jeweiligen Situation und dem didaktischen Handeln beitragen.
Im Rahmen eines zeitlich befristeten, auftragsgemäss auf die Einführung eines neuen Lehrplans ausgerichteten Angebots sind der Bearbeitung von Widerständen, insbesondere was die psychosoziale Seite der Gruppendynamik anbelangt, jedoch auch Grenzen gesetzt. Aspekte der Schulkultur, die für die Gruppendynamik und für die Kooperation bedeutsam sind, wie etwa kollektives Vertrauen oder die kollektive Überzeugung eines Kollegiums, anstehende Herausforderungen zu bewältigen, bilden sich in längerfristigen Prozessen aus und hängen mit dem Verhalten der Schulleitung zusammen (Tschannen-Moran, 2014a; Tschannen-Moran & Gareis, 2015). Eine kurze Intervention vermag keine fundamentalen Veränderungen auszulösen. Hingegen können gemeinsame Unterrichtserfahrungen, das Offenlegen von individuellen Erfahrungen und die gemeinsame Reflexion von Unterricht das Vertrauen in Kolleginnen und Kollegen verbessern (Ford, 2014; Tschannen-Moran, 2014b).
6.2 Reflexionen unterstützen und moderieren
Die Moderation ist von zentraler Bedeutung, damit das Sprechen über Unterricht nicht beim Austausch von Schlagworten an der Oberfläche bleibt. Sie trägt dazu bei, dass eine vertiefte Analyse und eine kritische Reflexion geschehen kann und damit eine professionelle Diskussion auf Basis eines professionellen Vokabulars entsteht. Inhaltlich müssen die «richtigen» Fragen gestellt werden, damit die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler fokussiert werden und die Diskussion nicht beim Handeln der Lehrperson stehen bleibt, denn das bedeutet, dass die Wirkungen dieses Handelns lediglich hypothetisch bleiben. Dem entgegen steht, dass die praktisch dominierende Sorge von Lehrpersonen häufig weniger die Lernerfahrung einzelner Schülerinnen und Schüler ist, sondern, über alles gesehen, eher der «instructional flow» der Lektion, der geordnete Ablauf von Aufträgen interessiert (Hargreaves, 2000). Das deutet auf eine didaktische Herausforderung für die Dozierenden hin, diese für Lehrpersonen häufig im Vordergrund stehenden Fragen nach Aufgaben, Lehrmittel und der Klassenführung aufzunehmen und mit einem Perspektivenwechsel in Verbindung mit den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler zu bringen.
Damit das Sprechen über Unterricht nicht abstrakt bleibt, helfen Artefakte aus dem Unterricht, die ihn repräsentieren, um so möglichst nahe an der «Gestaltwahrnehmung» (Korthagen, 2001) der eigenen Erfahrung und den Lernprozessen der Schülerinnen und Schülern zu bleiben (siehe Kapitel 7). Bei der Reflexion über Unterricht sind grundsätzlich zwei Bewegungen denkbar:
1 Abstrahieren: Dozierende unterstützen die Lehrpersonen, die konkrete Erfahrung zu verdichten und zu verallgemeinern (vgl. Wahl, 1991). Damit ist das gemeint, was Neuweg (2010) «Anschauung theoretisieren» nennt (ebd., S. 46). Eraut (1994) meint, ohne die Fähigkeit zu theoretisieren, endet der Praktiker im Gefängnis der eigenen Erfahrungen (zitiert nach Ertsas & Irgens, 2017). Mögliche Ausgangspunkte sind die Analyse beziehungsweise die Fragen nach Mustern in Arbeiten von Schülerinnen und Schülern oder inwiefern sich die Lernerwartungen in den Arbeiten zeigen, um den Fokus auf die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler aufrechtzuerhalten (Nelson, Deuel, Slavit & Kennedy, 2010). Folgen können dann Fragen nach deren Zusammenhang mit Bedingungen der Lernumgebung, etwa der Aufgabenqualität oder Lernbegleitung durch die Lehrperson. Damit sind einerseits Komponenten des fachdidaktischen Wissens angesprochen (siehe Kapitel 5.2), anderseits werden sie in Verbindung gebracht («Wie hängen die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler mit meiner Aufgabenstellung zusammen?»).Erst das Beschreiben der Wahrnehmung des konkreten Ereignisses, das Fassen in Worte macht die spezifische Situation reflektierbar, mit anderen Erfahrungen und Sichtweisen konfrontierbar. Dadurch können Merkmale des besprochenen Unterrichtsbeispiels abstrahierend herausgearbeitet beziehungsweise subjektive oder implizite Theorien expliziert, bestehende Handlungsmuster offengelegt werden. Nun folgt der Schritt, die bestehenden Theorien mit dem Neuen zu verbinden, das sich gegenüber der eigenen Praxis und Erfahrungen zuerst abstrakt präsentiert, im vorliegenden Fall als neuer Lehrplan mit einer anderen Form der Darstellung und Formulierung von Lernerwartungen sowie einem kompetenzorientierten Unterrichtsverständnis. Es lässt sich zum Beispiel fragen, inwiefern herausgearbeitete Handlungsmuster einem kompetenzorientierten Unterricht entsprechen. Diese erste, «theoretisierende» Bewegung, die es zu moderieren gilt, expliziert induktiv an den Erfahrungen anknüpfend subjektive Theorien (Theorieebene 1), indem zum Beispiel Besonderheiten oder Erklärungen des diskutierten Unterrichtsbeispiels versprachlicht werden (siehe Abbildung 1.3). Das kann als Zwischenschritt angesehen werden, um in der Folge den Bezug zur noch abstrakteren Ebene von allgemeinen Erkenntnissen (Theorieebene 2) herzustellen, wie sie zum Beispiel Ergebnisse der Unterrichtsforschung, eine didaktische Theorie oder, in Verbindung von beidem im vorliegenden Fall, allgemeine Merkmale eines kompetenzorientierten Unterrichts darstellen.
2 Konkretisieren: Dozierende müssen nun wissen, wie man das Neue mit dem Wissen beziehungsweise allgemeiner mit der subjektiven Theorie der Lehrpersonen zusammen für die Unterrichtspraxis bedeutsam und im Kontext der Unterrichtspraxis handhabbar macht (Timperley et al., 2007; Cordingley & Buckler, 2014). Dies verweist auf die zweite, das Abstrakte nun wiederum konkretisierende, also die Theorie veranschaulichende Bewegung, die es zu moderieren gilt. Sie mündet in die Frage, wie eine verallgemeinerte Erkenntnis der Theorieebene 2 zu der eigenen subjektiven Theorie auf Ebene 1 steht und welche Folgen dies für die eigene Praxis im Unterricht hat.
In der Lage zu sein, auf die Theorieebene 2 zurückzugreifen, kann die berufliche Praxis legitimieren, implizite Theorien durch Formulierung auf Theorieebene 1 explizit machen und es ermöglichen, sowohl über die eigene wie auch die allgemeine Theorieebene kritisch zu reflektieren (Ertsas & Irgens, 2017). Dozierende müssen dazu iterativ, aber immer wieder in Bezug auf die zentrale Frage, wie sich die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler unter den gegebenen Lernbedingungen verhalten, einen bewussten Wechsel der Theorieebenen pflegen (siehe Abbildung 1.3).
Abbildung 1.3: Dozierende moderieren zwei Bewegungen: Abstrahieren und Konkretisieren (eigene Darstellung)
Die Moderation von reflektierenden Diskussionssequenzen bedarf einer «skilled leadership» (Earl, 2009; siehe Kapitel 7). Dabei müssen Dozierende mit den heterogenen Voraussetzungen der Lehrpersonen rechnen und entsprechend adaptiv agieren. Basierend