Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
von Lehrpersonen an die Klarheit und Orientierungshilfe von Bildungsstandards und Kompetenzmodellen im Hinblick auf das eigene Unterrichten eher enttäuscht (Neuweg, 2005; Specht & Freudenthaler, 2008; Wacker, 2008).
4 Die Umstände des Unterrichtens verhindern das Lernen der Lehrpersonen beziehungsweise die Veränderung ihrer Praxis, etwa bürokratische und organisationale Bedingungen des Arbeitsplatzes Schule (ebd.; Clement & Vandenberghe, 2000; Rosenholtz, Bassler & Hoover-Dempsey, 1986). Aber auch sozialpsychologische Umstände, wie sie beispielsweise mit den Termini «Schulkultur» (Eraut, 2014; Hargreaves & Braun, 2012; Claudet, 1998; Louis, Marks & Kruse, 1994; Postholm & Wæge, 2016) oder «powerful discourse communities» (Putnam & Borko, 2000) gefasst werden: Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler wachsen in eine bestehende Kultur von Aktivitäten und Denkweisen einer Schule hinein, die für die Unterrichtsentwicklung mehr oder weniger förderlich sind.
5 Reformziele selbst sind unerreichbar oder können die Praxis behindern, sind also nicht realistisch. So wird zum Beispiel kritisch gefragt, ob Reformkonzepte der Deregulierung und Dezentralisation, die mit dem Ansatz «Schulen als lernende Organisationen» operieren, nicht tatsächlich höchstens Organisationsprobleme zu lösen vermögen, aber nicht unterrichtliche beziehungsweise solche, die mit dem Bildungsauftrag der Lehrpersonen zu tun haben (Böttcher, 2009; Tacke, 2004). Diese Frage stellt sich im Kanton Bern zum Beispiel beim Reformkonzept bezüglich der Integration (siehe Beitrag 2, Kapitel 7).
Diese Schwierigkeiten lassen sich auch als «Problem der Implementation» bezeichnen (Oelkers & Reusser, 2008, S. 49), eine politikwissenschaftliche «Entdeckung» der 1980er-Jahre (McLaughlin, 1987); ihm kann nur mit kohärenten Massnahmen auf allen Systemebenen erfolgreich begegnet werden. Implementationsstrategien müssen nicht nur die Lehrpersonen, Schulleitungen und die Bildungsverwaltung, sondern auch die Eltern, Schülerinnen und Schüler, Medien und die lokale Öffentlichkeit adressieren (Oelkers & Reusser, 2008). Erfolgreicher sind Kombinationen von unterstützenden Massnahmen zur gleichen Zeit und über längere Zeit (Lieberman & Miller, 1990; Levin, 2010; Fullan, 1994) sowie von Top-down- und Bottom-up-Strategien (Fullan, 1994), wobei die Forschungslage zur «richtigen» Implementationsstrategie nicht eindeutig ist (Gräsel et al., 2006b). Deutlich ist zumindest, dass bei einer Schulreform wie der Einführung eines neuen Lehrplans externe Anforderungen individuell und kollektiv bearbeitet werden müssen. Deshalb auch sind schulinterne Entwicklungsarbeiten unbedingt erforderlich. Mit Blick auf die einzelne Schule sind es hauptsächlich psychologische und sozialpsychologische Faktoren auf Individualebene der Lehrpersonen und der Schulebene, die Veränderungen unterstützen oder behindern (Edelstein, 2002). Levin postuliert: «The problem is not one of resistance to change, but of making the right changes in the right ways» (2008, S. 66; vgl. auch Bereiter, 2002: Nicht Widerstand, sondern nicht «rechtzeitig» erfahrener Mehrwert lässt Reformen scheitern). Er bezieht sich damit auf einen Grundsatz der von ihm als Vize-Bildungsminister (2004–2007) mitverantworteten und auch von dritter Seite als erfolgreich beschriebenen systemweiten Bildungsreform in Ontario, Kanada, dass eine Implementationsstrategie bei den alltäglichen Realitäten der Lehrpersonen anzusetzen und dabei auf wenige Ziele zu fokussieren habe und nicht zu viele Änderungen auf einmal anzustreben sind. Genügend Zeit für die Unterrichtentwicklung und die Unterstützung der Lehrpersonen ist ein zentrales Mittel, verbunden mit einer starken «leadership» über alle Systemebenen hinweg, die am gleichen Strang zieht und dem fokussierten Unterstützen der Lehrpersonen dient, aber auch dort Druck ausübt, wo Lehrstandards nicht erreicht werden (Levin, 2010; Fullan & Levin, 2009). Dazu gehört auch ein gezielter Ressourceneinsatz und die Einbindung der Eltern und der weiteren Gesellschaft.
Die Herausforderung für eine Reform besteht allgemein gesagt in der Realisierung einer pädagogischen Qualitätsentwicklung der einzelnen Schule (Oelkers & Reusser, 2008, S. 46ff.), der es gelingt, fokussiert Reformziele einzubinden. Von Vorteil ist es selbstverständlich, wenn die Ziele und Mittel durch das Bildungssystem als Ganzes unterstützt werden. Das ist eine Absage an eine Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung, die Lehrpersonen als gelegentliche Empfänger von Injektionen sieht, «to pep them up, calm them down, or ease their pain» (Hargreaves, 1994, S. 430) und entspricht eher, um Hargreaves Metapher zu gebrauchen, einer regelmässigen und ausbalancierten Diät (ebd.). Die Diät ist eingebunden in die alltäglichen Prozesse der schulischen Qualitätsentwicklung. Das alltägliche Essen verändert sich idealerweise nur in Bezug auf die Zubereitung und die Zutaten, nicht auch in Umfang und Dauer. Allerdings bedarf die neue Zubereitungsart unter Umständen auch eines Lernprozesses, der über die alltägliche Kochzeit hinausgeht: Unterrichtsentwicklung in einem breiten Sinn (siehe Kapitel 3) zur Reformimplementation braucht eine «Episode» (Quesel, 2019) der besonderen und fokussierten Anstrengung. Der Unterstützung durch die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung durch Angebote beziehungsweise bestimmte Formen von Lerngelegenheiten fällt dabei eine bedeutende Funktion zu (Penuel et al., 2009).
5 Gestaltung von Lerngelegenheiten
Lernen ist kontextuell situiert und hoch individuell. Gerade angesichts von Reformen sind kognitiv-affektive Reaktionen eine bedeutsame Ausgangsgrösse für Lernprozesse und können sehr heterogen ausfallen. Ihre Bearbeitung braucht externe Expertise und Reflexion, deren Ergebnisse letztlich auch von organisationalen und schulkulturellen Umständen abhängen.
Aus den hier dargelegten Entwicklungen und der Forschung zur Wirksamkeit von Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung lassen sich verschiedene Aspekte ableiten, die für die Gestaltung eines Angebots zur Umsetzung eines Reformvorhabens wie der Umsetzung des Lehrplans 21 von Bedeutung sind, wenn bei den Lehrpersonen Lernprozesse ausgelöst werden sollen.
5.1 Nicht allein lernen – kollektives Lernen in der Schule
Wie in Kapitel 3 und 4 dargestellt, bedeutet wirksames Lernen von Lehrpersonen lerntheoretisch dynamische individuelle und kollektive Interaktionen der Person mit dem Unterrichten und dem Kontext ihrer Unterrichtspraxis. Dazu kommen die sozialanthropologischen (Lave & Wenger, 1991; Wenger, 1998) und arbeitspsychologischen Hinweise auf die sozialen Bedingungen des Lernens und des Arbeitsplatzes Schule für die einzelnen Lehrpersonen, die auf Vorteile einer kooperativen schulinternen Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung schliessen lassen (empirische Evidenzen z.B. bei Camburn, 2010; Althauser, 2014). Die Forschung zeigt, dass die Kooperation der Lehrpersonen nicht nur ein Merkmal effektiver Schulen und eine fördernde Bedingung für die Übernahme und Umsetzung von Innovationen an Schulen darstellt (Gräsel, Fussangel & Parchmann, 2006; Fussangel & Gräsel, 2009; Steinert et al., 2006), sondern ebenfalls die langfristige Wirksamkeit von Weiterbildungsmassnahmen begünstigt (Freienberg, Parchmann, Pröbstel & Gräsel, 2008; Gersten, Dimino, Jayanthi, Kim & Santoro, 2010). Zudem kann der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen die Bewältigung berufsimmanenter Unsicherheiten, wie sie sich aufgrund der Unvorhersehbarkeit des Unterrichts, der Komplexität des Berufsauftrags und reforminduziert ergeben, unterstützen (Soltau & Mienert, 2010).
Das wurde von der Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung, deren Funktion die Unterstützung der Lehrpersonen ist, nicht immer so verstanden, auch weil die Entscheidungen darüber, welche Weiterbildungsziele verfolgt werden sollten, früher fast ausschliesslich bei den einzelnen Lehrpersonen lagen. Was und wie von Lehrpersonen gelernt werden soll, wurde lange als ein vollständig individueller, in der alleinigen Verantwortung der Lehrpersonen stehender Prozess angesehen (Huberman, 1995, S. 194). Für Grossbritannien beispielsweise stellt Bolam (2000) für den Zeitraum von 1960 bis Anfang 1980 fest, dass das vorherrschende Paradigma die individuellen Bedürfnisse einzelner Professioneller war. Selbst bei den aufkommenden schulinternen Weiterbildungen habe die Kontrolle trotz grösserer Beachtung der Bedürfnisse der Schulen und des weiteren Systems bei den Lehrpersonen gelegen. Das lässt sich auch für die Schweiz sagen, wie die Auseinandersetzung zwischen der Profession und dem Staat um die Institutionalisierung eines Weiterbildungsobligatoriums zeigt. Die Wahlfreiheit der Lehrpersonen bedeuteten der Profession viel (Balmer, 2018a; Kansteiner, 2015). In der Schweiz intensivierte