Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book). Thomas Balmer
eines systematischen Lehrplans für die Lehrerbildung von der Grundausbildung über den Berufseinstieg bis zur permanenten Weiterbildung während der Berufsausübung (Balmer, 2018a). Im Kanton Bern wurde die staatliche Förderung und Unterstützung erstmals 1966 im «Gesetz über die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen» festgeschrieben. Weiterbildung als auch im Umfang definiertes Recht und definierte Pflicht im Rahmen des Berufsauftrags wurde im Kanton Bern Anfang der 1990er-Jahre gesetzlich festgehalten. Darin findet sich auch die Feststellung, dass Lehrpersonen «zu Erneuerungsarbeiten im Gesamtrahmen der Schule [beitragen]» (Art. 17, Abs. 2, Grosser Rat des Kantons Bern, 1993).
Zwar werden schon vorher Ansprüche von verschiedener Seite an die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung geäussert, aber die einzelne Schule als Organisationseinheit fehlte noch als Perspektive und kam mit der Entdeckung der Schule als Handlungseinheit sowie der Schulentwicklung in den Blick. Das führte dazu, dass die einzelne Schule nicht nur ein Ort der (kooperativen) Weiterbildung wurde, wie sich an der Zunahme schulinterner Weiterbildungsanlässe seit den 1990er-Jahren zeigt (Eurydice, 1995; Strittmatter, 1990). Mit dieser Tendenz beruhte ihre Zielbestimmung aus mindestens zwei Gründen nun nicht mehr nur auf den Bedürfnissen der einzelnen Lehrperson:
Die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung wird als ein integraler Teil von Bildungsreformen gedacht und
Veränderungen mit dem Blick auf die Schule als Handlungseinheit im Sinne der Schulentwicklung werden als kollektives Unternehmen, orientiert an den Bedürfnissen der Schule, verstanden (OECD/CERI, 1998).
Allerdings zeigte sich auch, dass die Verlagerung der Weiterbildung von externen Weiterbildungsanbietern und individueller Teilnahmeentscheidung der Lehrperson in die Schulen allein nicht genügt, um näher an die alltägliche Praxis zu kommen, Lernprozesse zu optimieren und die Herausforderung des Übertragens von Neuem in die eigene Praxis zu bewältigen (Rüegg, 2000). Die Studie der Forschungsgruppe um Creemers zeigt zum Beispiel, dass ihr didaktischer Weiterbildungsansatz bei externen Weiterbildungen nicht weniger effektiv war als bei schulinternen (Creemers, Kyriakides & Antoniou, 2013, S. 213). Schulinterne Weiterbildung ist demzufolge weiteren Gelingensbedingungen unterworfen, damit kollektive Lerngelegenheiten auch tatsächlich zu kooperativen Lernprozessen führen (oder, umgekehrt gelesen, schulexterne Weiterbildungen sind nicht a priori weniger effektiv). Eine Gefahr ist beispielsweise, dass eine Gruppe ohne gewisse externe Expertise auf einem bestimmten Niveau stehen bleibt (Coe, Aloisi, Higgins & Major, 2014; Antoniou & Kyriakides, 2011).
Die hier im Fokus stehende unterrichtsbezogene Kooperation zeichnet sich ganz allgemein aus durch den inhaltlichen Bezug auf die didaktisch-pädagogische oder organisatorische Planung, Durchführung und Evaluation oder Reflexion unterrichtlicher Handlungen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern (Kullmann, 2010; Fussangel, 2008). Dabei lassen sich drei Formen unterscheiden (vgl. Gräsel, Fussangel & Pröbstel, 2006a, 209ff.):
1 Das Austauschen von unterrichtsbezogenen Materialien und Informationen. Es erfordert keine Prozesse des Aushandelns von Zielen und des Klärens. Gelegentliche Gespräche genügen dafür. Die Lehrpersonen arbeiten weiterhin relativ autonom.
2 In arbeitsteiliger Kooperation können Aufgaben bearbeitet werden, die eine Aufteilung auf die Beteiligten erlauben. Die Arbeit wird wesentlich individuell erledigt, bedingt durch eine gemeinsame Zielsetzung. Die Planung aber erfolgt nicht mehr völlig autonom. Vertrauen ist insofern erforderlich, als sich die Kooperationspartner auf das erwartungsgemässe Erledigen des Auftrags verlassen können. Durch den Beitrag mehrerer Personen zum Beispiel zur Planung einer Unterrichtseinheit kann sich eine Effizienzsteigerung ergeben.
3 Ein intensives, über weite Strecken gemeinsames Bearbeiten einer Aufgabe oder eines Problems wird als Ko-Konstruktion bezeichnet. Durch inhaltsorientierten Austausch, Klärungsprozesse und Reflexionen wird das individuelle Wissen aufeinander bezogen und – wie man es sich auch vom kooperativen Lernen im Unterricht verspricht (Renkl, 2008) – neues Wissen, vertiefteres Verständnis und bessere Lösungen entstehen.
Dabei ist zu bedenken, dass «mehr» oder «intensivere» Kooperation nicht zwingend für jede Aufgabe und unter allen Kontextbedingungen das richtige Mittel der Arbeitsorganisation sein muss (Gräsel et al., 2006a). Erfahrungen verweisen auch darauf, dass eine enge Kooperation auch nicht immer bessere Lösungen hervorbringt, wenn etwa bestimmte übermächtige Vorstellungen die Reflexionsfähigkeit der Gruppe einschränken und keine individuelle Autonomie zulassen (Idel & Ullrich, 2013), weil ein «Konformitätsdruck» (Fischer, 2007) besteht. Diese drei Zusammenarbeitsformen sind deshalb nicht a priori als Qualitätsstufen der Kooperation misszuverstehen (Helsper, 2006). Ob Kooperation produktiv ist und nicht nur Zeit absorbiert oder gar zusätzliche Probleme erzeugt, zeigt sich letztlich in einem Ergebnis, das professionellen Kriterien entspricht und in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand steht (siehe Beitrag 2, Kapitel 7).
Eine unterrichtsbezogene strukturierte Zusammenarbeit wird mit dem Konzept der «professionellen Lerngemeinschaft» beschrieben. Sie zeichnet sich durch einen reflexiven Dialog, eine Deprivatisierung der eigenen Praxis des Unterrichtens, einen gemeinsamen Fokus auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler sowie gemeinsam geteilte Werte und Normen aus und ist grundsätzlich freiwillig (Bonsen & Rolff, 2006; Vescio, Ross & Adams, 2008). Verschiedene Voraussetzungen tragen zum Gelingen bei. Nebst Kontextfaktoren (z.B. Arbeitsbedingungen, Schulkultur) ist die Bereitschaft der Lehrperson bedeutsam, ihren Unterricht zu öffnen, persönliche und kollektive Reflexion und Kritik zuzulassen sowie eine forschende Haltung einzunehmen (Penuel, Sun, Frank, Kenneth & Gallagher, 2012).
Als bedeutsam für Veränderung hat sich vor allem die fachliche Kooperation erwiesen (Nieskens & Schuhmacher, 2010), was sich mit dem Ergebnis der Schuleffektivitätsforschung verbinden lässt, dass ein allgegenwärtiger Fokus einer Schule auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler bedeutsam ist. Neuere Ansätze der strukturierten kooperativen Analyse, Reflexion und Neuerprobung von Unterrichtselementen mit Fokus auf das fachliche Lernen der Schülerinnen und Schüler, wie Lesson Studies (Xu & Pedder, 2016) oder Videoclubs (Sherin & Han, 2004), bestätigen das Potenzial fachlicher Kooperation. Lernen ist immer an Inhalte gebunden, die in der Schule und im Lehrplan in Fachbereichen angesiedelt sind. Das spricht für eine primär fachbezogene Unterrichtsentwicklung (siehe Beitrag 3, Kapitel 1.3). Für die Verortung von Unterrichtsentwicklung in der Schule lässt sich daraus die Notwendigkeit folgern, dass sie in Teams des gleichen Fachbereichs und/oder der unterrichteten Stufe stattfinden sollte. Organisationsstrukturell gilt es, entsprechende Ressourcen und Gefässe zu schaffen. Gerade im Kontext einer Lehrplaneinführung ist zudem die externe Unterstützung durch ein Weiterbildungsangebot von Bedeutung, denn es hat sich auch gezeigt, dass ohne Weiterbildung Konzeptionen und Verhalten, wie sie Reformen zu implementieren gedenken, bei erfahrenen Lehrpersonen stark variieren (Hoekstra, Brekelmans, Beijaard & Korthagen, 2009). Creemers et al. (2013) stellen in ihrer Studie sogar fest, dass sich die Fähigkeiten der Lehrpersonen während eines Jahres trotz geplanter Unterrichtsentwicklung ohne externe Unterstützung nicht veränderten. Sie schlussfolgern, dass ohne systematisches Bestreben seitens der Lehrpersonen, aber auch ohne externe Unterstützung Bildungssysteme keine Verbesserung der Qualität von Unterricht und der Lernergebnisse erwarten können (ebd., S. 217).
Kooperation ist nicht per se der «Königsweg der Unterrichtsentwicklung» (Rolff, 2015). Die strukturellen und personellen Voraussetzungen der Schulen und Lehrpersonen sind so verschieden, dass Kooperation «keine universale Strategie der Schul- und Unterrichtsentwicklung ist» (Steinert & Maag Merki, 2009), sondern aufgaben- und kontextspezifisch in Abwägung der Ressourcen und des versprochenen Mehrwertes einzusetzen ist. Das bedeutet zum Beispiel zu klären, welche Kooperationsgefässe angesichts des Schulorganisationskontextes im Kanton Bern in welcher zeitlichen Struktur (permanent versus projektbezogen) bezüglich welcher Aufgaben mit welchen Ressourcen (zeitlicher Umfang) gebildet werden sollen. Unterrichtsteams (Lehrpersonen einer Klasse), Fachgruppen (Lehrpersonen eines Schulfaches) und Zyklusgruppen (Lehrpersonen einer Schulstufe) dürften ihre je eigenen Themen haben, die zu bearbeiten in der jeweiligen Gruppe von vorrangigem Interesse und damit sinngebend sein dürften. Sie zu klären und voneinander abzugrenzen, ist eine notwendige Voraussetzung, damit die Kooperationsgefässe wirksam werden können.
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