Sie nannten mich Unkraut. Marion Döbert
Ich sehe die weiße Haut zwischen ihren Haaren.
Die kahlen Stellen werden immer größer.
Meine Eltern sind nervös.
Das hier dauert ihnen zu lange.
Sie wollen eine rauchen.
Aber der Pfarrer stellt schon wieder eine Frage:
„Glauben Sie an Gott, den allmächtigen Vater?“
Mein allmächtiger Vater nickt.
Und er sagt: „Ja.“
Dieser Lügner!
Mein Vater glaubt nicht an Gott.
Er schimpft über die Pfaffen, den Papst und die Kirche.
„Die ziehen einem nur das Geld aus der Tasche“, sagt er immer. „Mit ihrem Hokuspokus.“
Der Pfarrer fragt weiter:
„Werden Sie Ihren Sohn Marcel
zu einem Kind Gottes erziehen?“
Meine Mutter nickt.
Dabei sucht sie nach ihrem Feuer-Zeug.
„Werden Sie für Ihren Sohn Marcel beten und auch für die anderen Kinder dieser Welt?“
Meine Eltern nicken und sagen leise: „Ja.“
Aber ich weiß:
Die Kinder dieser Welt sind ihnen so egal wie Jäckie, Marcel und ich.
Diese ganze Taufe hier soll nur eins bringen:
Geld und Geschenke.
Alle sind erleichtert,
als der Pfarrer zum Schluss Amen sagt.
Alle gehen schnell aus der Kirche.
„Meine Güte, hat das gedauert“,
sagt Tante Trude.
„Glaubt der Pfarrer wirklich
an diesen ganzen Mist?“, fragt Onkel Gerd.
„Gibt es bei euch was zu essen?“, fragt Tante Else.
„Und was zu trinken?“, ruft Tante Käthi.
Ich schiebe Marcel im Kinderwagen.
Dabei trage ich Jäckie auf dem Arm.
„Popo aua“, weint sie.
Natürlich tut ihr der Hintern weh.
Den halben Tag lang sitzt sie auf dem Töpfchen.
Meine Eltern sparen an den Windeln.
Sie haben keine Lust,
der Kleinen frische Windeln zu geben.
Die kosten zu viel Geld.
Wenn ich was sage, schreit der Alte mich an:
„Seit wann weißt du, wie man Kinder erzieht?“
Ich singe Jäckie was vor, um sie abzulenken.
Ein Lied, das ich aus der Schule kenne.
Ich kenne aber nur den Anfang.
Deshalb singe ich immer wieder:
„Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?“
Ich habe in der Schule nicht verstanden,
um was es in dem Lied geht.
Aber der Anfang von dem Lied gefällt mir.
Die Gedanken, die sind geheim.
Die kann keiner erraten.
Meine Gedanken gehören mir.
Und nicht meinem Alten.
Auch nicht meiner Mutter.
Da können sie lange raten, was ich denke.
Jäckie ist von meinem Singen eingeschlafen.
Marcel auch.
In meinen Gedanken bin ich der Papa.
In meinen Gedanken bin ich ein echter Papa für Jäckie und Marcel.
Ein Papa, der seine Kinder lieb hat.
Wenn ich mal ein Vater werde, dann werde ich meine Kinder lieben.
Die Feier
Nach der Taufe gibt es eine Feier.
Normalerweise.
Meinen Eltern ist egal, was normal ist.
Aber wenn es um Geld und Geschenke geht,
dann machen sie alles mit.
Deshalb laden sie alle zu uns nach Hause ein.
Die Tanten und Verwandten.
Die Brüder und Schwestern.
Alle, die sie eigentlich nicht leiden können.
Der Tisch ist gedeckt.
Frikadellen, Gurken, Schwarz-Brot und Brötchen.
Roll-Mops mit Zwiebeln, Schmalz, Wurst und Käse.
Später gibt es dann Süßes:
Käse-Kuchen und Bienen-Stich.
Und abends gibt es Häppchen.
Aber dann essen die Gäste meistens nicht mehr.
Abends sind sie voll.
Voll bis oben hin.
Nicht nur vom Essen.
Sondern auch vom Trinken.
Bier und Schnaps. Wein und Likör.
Je mehr sie trinken,
desto lauter wird es.
„Bring Jäckie ins Bett!“, sagt meine Mutter.
Endlich merkt sie, dass Jäckie weint.
Seit einer Stunde weint meine kleine Schwester.
Tanten und Onkel haben sie herumgereicht.
Von dem einen Arm hier auf den anderen Arm da.
Marcel habe ich schon in Sicherheit gebracht.
Ich habe ihm sein Fläschchen gegeben.
Zum Glück hat das keiner mitbekommen.
Sonst hätten sie Marcel auch so herumgereicht.
Und ich weiß, wovon ich rede.
Ich weiß, wie das alles enden kann.
Früher, als ich klein war und als mein Onkel kam.
Bei irgend so einer Feier.
Ins Kinderzimmer ist er gekommen.
Er wollte Küsschen geben.
Ein Gute-Nacht-Küsschen.
Und dann hat er seine Zunge
in meinen Mund geschoben.
Wenn sie trinken,
dann muss man in Deckung gehen.
Dann muss ich meine Geschwister verstecken.
Und später auch mich.
Wenn alle weg sind.
Wenn nur noch mein Vater
im Wohnzimmer ist.
Wenn er dann glaubt,
er ist der Größte.
Der Stärkste.
Der Tollste.
Dann muss ich so tun,
als würde ich schlafen.
Sonst