Sie nannten mich Unkraut. Marion Döbert

Sie nannten mich Unkraut - Marion Döbert


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ich der Einzige bin,

      der noch da ist und der sich nicht wehren kann.

      Mein Vater ist jähzornig und unberechenbar.

       In der Schule

      In der Schule ist es besser als zu Hause.

      Aber in der Schule muss ich immer

      an zu Hause denken.

      Was ist mit Jäckie?

      Was ist mit Marcel?

      Ich kann dem Lehrer schlecht zuhören.

      Meine Gedanken springen wie Flöhe hin und her.

      Kein Gedanke bleibt da,

      wo er sein soll.

      Und deshalb weiß ich auch die Antworten nicht.

      Der Lehrer spricht ruhig.

      Er spricht mit Worten,

      die ich nicht kenne.

      Diese Worte machen mich oft müde.

      „Jakob! Jakob?“

      Ich schrecke auf.

      Der Lehrer steht direkt neben mir.

      Die anderen Schüler kichern leise.

      „Weißt du die Lösung?“

      Welche Lösung?, denke ich.

      Welche Lösung von was?

      „Erlöse uns von dem Bösen …“

      Dieser Satz von dem Pfarrer fällt mir jetzt ein.

      Bei der Taufe von Marcel hat er das gesagt.

      Alle haben den Satz mitgesprochen.

       Erlöse uns von dem Bösen.

      Aber was ist dieses Böse?

      Ich habe es in der Kirche nicht verstanden.

      Und alle haben gelogen,

      als sie gebetet haben.

      Alle aus meiner Familie.

      Jetzt sitze ich hier in der Schule.

      Und ich soll sagen, was die Lösung ist.

      Aber ich verstehe die Worte genauso wenig wie in der Kirche.

      Ich fühle mich fremd an diesen Orten.

      In der Kirche.

      In der Schule.

      Weil mein Leben zu Hause ganz anders ist.

      Wir reden nicht.

      So wie in der Schule.

      Wir singen nicht.

      So wie in der Kirche.

      Wir suchen nicht nach Lösungen.

      Wir haben einfach kein Geld.

      Darum geht es bei uns zu Hause.

      Ums Geld.

      Und nur um die Sorgen ums Geld.

      Nach der Taufe war meine Mutter wütend:

      „Deine Schwester hat nur 20 Euro gegeben“,

      schreit sie meinen Vater an.

      Mein Vater schreit zurück:

      „Und dein Bruder hat alles weggesoffen.“

      Meine Mutter schreit weiter:

      „Du warst doch selbst besoffen.

      Und das bei der Taufe von unserem Sohn!“

      „Unser Sohn?“, brüllt mein Vater.

      „Woher weiß ich denn, welches Kind von mir ist?

      Wer weiß, in welchen Betten du dich rumtreibst.“

      Ich liege in meinem Zimmer.

      In unserem Zimmer.

      Wir haben nur ein Kinderzimmer.

      Jäckie, Marcel und ich.

      Ich höre, was meine Eltern sagen.

      „Jakob ist ein Bastard“, sagt mein Vater.

      Wieder ein Wort, das ich nicht verstehe.

      Bastard ist bestimmt kein Schul-Wort.

      Dieses Wort darf man in der Schule

      ganz bestimmt nicht sagen.

      Das spüre ich.

      Weil mein Vater dieses Wort so böse ausspricht.

      „Den Jakob hast du doch von einem anderen Kerl.“

      „Wie kommst du denn da drauf?“,

      schreit meine Mutter.

      „Der ist nicht wie wir“, sagt mein Vater.

      „Wie wir?“, schreit meine Mutter.

      „Na, nicht wie ich!“, schreit mein Vater.

      „Der ist zu weich.

      Wie der mit Jäckie und Marcel rummacht.

      Das ist doch kein Kerl, der Jakob.

      Der denkt zu viel.

      Ein Träumer ist das.

      Ein Spinner.

      Ein Weich-Ei.

      Der kommt nie durchs Leben!“

      In der Schule soll ich nachdenken.

      Und auf Fragen antworten.

      Aber hier zu Hause soll ich mein Maul halten.

      Das habe ich gelernt.

      Sonst nichts.

      Deshalb mogele ich mich überall durch.

      Zu Hause genauso wie in der Schule.

      Am besten sind die Tage,

      an denen ich nicht zu Hause bin

      und auch nicht in der Schule.

      Ich schwänze, so oft es nur geht.

      Ich gehe so wenig wie möglich zur Schule.

      Die Schule schickt einen Brief an meine Eltern.

      „Was schreiben die?“, fragt mein Vater.

      „Ist nur eine Einladung zum Eltern-Abend“, lügt meine Mutter.

      Ich höre es aus der Küche.

      Der Lehrer hatte mich vorgewarnt:

      „Wenn du noch einmal fehlst,

      gibt es einen Brief an deine Eltern.“

      Meine Mutter lügt,

      um mich zu schützen.

      Sie hat doch noch so was wie Mutter-Liebe.

      Aber vielleicht hat sie auch nur Angst vor meinem Vater.

      Wenn der Alte wütend ist,

      ist er auch für sie gefährlich.

       Zehn Jahre

      Ich habe sie geschafft!

      Diese furchtbaren zehn Jahre.

      Zehn Jahre Schule!

      Endlich bin ich da raus.

      Einen Abschluss habe ich nicht geschafft.

      Aber ich bin frei.

      Ich bin frei!

      „Du kommst mit auf den Bau!“, sagt mein Vater.

      Auf den Bau heißt:

      Ich soll mit ihm auf der Baustelle arbeiten.


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