Systemische Organisationsanalyse. Günther Mohr
In lebenden Systemen gibt es immer eine Entwicklungsgeschichte und einen Trend der Entwicklung. Jedoch werden Unternehmen noch von Menschen gemacht. Es sind Menschen, die außer zu dem System Unternehmen auch zu anderen Systemen gehören. Aber auch viele Führungskräfte haben die Grundaufgabe ihres »Berufes Führungskraft« noch nicht bemerkt. [DER BERUF FÜHRUNGSKRAFT] Sie besteht im aktiven, stetigen Bemühen, eine größtmögliche Überschneidung der Ziele der Menschen mit den Zielen des Unternehmenssystems zu erreichen.
Kontext erzeugt Verhalten
Für Organisationen ist ein weiteres Phänomen wichtig. Eine Gruppe von Menschen zeigt nur dann ein bestimmtes Verhaltensmuster, wenn sie in einem bestimmten Kontext zusammenkommt. [DIE VERHAKTE VORSTANDSCREW] So verhakte sich eine Vorstandscrew regelmäßig in einem destruktiven Kommunikationsmuster, wenn sie in ihrem gediegenen »11. Stock« tagte. Als diese Vorstandsmitglieder einmal in einer völlig anderen Umgebung andere Aufgaben zu bewältigen hatten, zeigte sich ihre Kommunikation kurzzeitig kreativ und lösungsorientiert. Zurückgekehrt in den üblichen Kontext waren sie jedoch sofort wieder im alten Fahrwasser.
Auch ein berühmtes sozialpsychologisches Experiment von Philip Zimbardo zeigte die Kraft des Systems. [EIN EXPERIMENT] Er installierte im psychologischen Institut der Universität auf einer Etage ein simuliertes Gefängnis. Eine Gruppe von Studenten wurde als »Gefangene« deklariert, eine andere als »Wärter«. Das Experiment war für eine Dauer von einer Woche geplant. Zimbardo musste es nach vier Tagen abbrechen, weil die »Wärter« begonnen hatten, die »Gefangenen« körperlich zu bestrafen und anzugreifen. Daraufhin wurden Zimbardo methodische Fehler vorgeworfen. Er habe die Auswahl der »Gefangenen« und der »Wärter« nicht genügend nach dem Zufallsprinzip organisiert. Das Ergebnis sei das Resultat methodischer Fehler. Zimbardo gab nicht auf. Er korrigierte die kritisierten Punkte und begann das Experiment nach einem Jahr noch einmal. Diesmal musste er nach viereinhalb Tagen das Experiment beenden. Der Grund war der gleiche wie beim ersten Mal. Das Experiment zeigt eindeutig die Bedeutung des Kontextes für das Verhalten. Und mit dem Kontext ist meist die Installierung bestimmter Rollen aufs Engste verbunden.
Produziertes Gut und Systemdynamiken
Systemdynamiken werden in einem Zusammenspiel der verschiedenen Kraftfelder in einem System erzeugt. [DAS PRODUZIERTE GUT BEEINFLUSST DIE SYSTEMDYNAMIK] Dies passiert gerade im Organisationssystem. Wie die Systemdynamiken sich konkret ausformen, hängt natürlich auch vom»produzierten Gut« ab. Das Gefängnisexperiment von Zimbardo macht dies sehr deutlich. Aber auch in anderen Branchen nimmt der »Charakter« der produzierten Güter starken Einfluss auf die Prozesse. Es gibt dabei sogar interessante Parallelen. So ist der Umgang mit dem Thema Sicherheit und Kontrolle in einer Drogenklinik und in einer Bank recht ähnlich. In der Drogenklinik ist man permanent auf der Hut, Regelverstöße innerhalb der Klinik aufzuspüren, die mit Drogenmissbrauch in Zusammenhang stehen. In der Bank ist man permanent auf der Hut, Vergehen im Zusammenhang mit Geld und Geldtransaktionen aufzuspüren. Beide Male steht nämlich die Glaubwürdigkeit des produzierten Gutes Vertrauen auf dem Spiel.
Interne und externe Wirkungsweise
Die zunächst interne Wirkungsweise von Systemdynamiken ist interessant, obwohl der offizielle Zweck unternehmerischer Systeme in der Regel auf einen Markt gerichtet ist, der außerhalb des Unternehmens liegt. [INTERNE UND EXTERNE PERSPEKTIVE] Dass die Abgrenzung zwischen innen und außen nicht immer so ganz einfach und eindeutig ist, wird die Betrachtung der Dynamik »Systempulsation« (Kapitel 5) zeigen. Die Leistungsfähigkeit des Unternehmens nach außen wird zwar durch seine internen Dynamiken bestimmt. Dabei ist aber der Abbildungsprozess der äußeren Faktoren im Inneren ein wichtiger Aspekt. Daraus resultiert dann die Leistungsfähigkeit des Unternehmens bezüglich Kriterien wie Marktleistung, aber auch bezüglich des Outputs für die interessierten Gruppen wie Aktionäre und Mitarbeiter. Das ist letztlich das wesentliche Messkriterium. Denn die Aufgabe von unternehmerischen Systemen ist es, etwas zu erstellen, das über die Möglichkeiten des Einzelnen hinausgeht.
Innen und außen
[DYNAMIKEN SIND NACH INNEN UND AUSSEN WIRKSAM] Die Pfeile, die die Dynamiken des unternehmerischen Systems anzeigen, zeigen zuerst nach innen, weil ein lebendes System, und dies gilt auch für das Zusammenwirken von sozialen Humansystemen, zentral an seinem Eigenerhalt interessiert ist. Die Dynamiken haben immer Bezug nach innen und außen. Dies resultiert schon allein aus der Tatsache, dass alle Systemmitglieder eines unternehmerischen Systems auch zu anderen Systemen gehören. Dennoch entstehen die Probleme von Unternehmen im Wesentlichen bei innerer Unfähigkeit, sich äußeren Gegebenheiten anzupassen.
Abb. 5
Ein Unternehmen schafft es beispielsweise innen nicht, sich äußeren Marktveränderungen anzupassen. Die inneren Systemdynamiken verändern sich dann zu langsam in Relation zu äußeren Anforderungen. Letztlich wird die Erfolgsrückmeldung von außen gegeben. Der Erfolgsprozess wird trotzdem innen gestaltet.
Die Außenwirkung der Dynamiken lässt drei Perspektiven zu. Man kann eine qualitative Diagnose des Systems aufstellen. Steuernde Interventionen werden möglich. Als drittes lassen sich auch Aussagen über die Leistungsfähigkeit des Systems machen.
Beispielsweise bei Fusionen, Firmenkäufen, für die Kreditvergabe oder die Eigenkapitalausstattung an ein Unternehmen ist dessen zukünftige Performance sehr wichtig. Es geht hier darum, Kriterien zu finden, die etwas darüber aussagen, wie leistungsfähig eine Organisation in Zukunft sein wird. In der Bilanzanalyse ermittelt man die Vergangenheitsdaten. Viel wichtiger ist allerdings die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens.
Abb. 6
Die Dimensionen machen ebenso eine Qualitätseinstufung möglich. [QUALITÄT EINER ORGANISATION] Wie wird die Qualität auf den einzelnen Dimensionen in Bezug auf vorher festzulegende Kriterien eingeschätzt?
In dieser Weise kann man eine Organisation bezüglich der aktuellen Qualität ihrer Dynamikdimensionen auf Skalen einschätzen. Hier sind entsprechende Skalierungssysteme erforderlich. [BEEINFLUSSUNG EINER ORGANISATION] Eine grobe Orientierung der Einflussnahme auf ein Organisationssystem gibt folgende Regel: Will man ernsthaft Einfluss auf ein Organisationssystem nehmen, sollte man aus jedem der vier Felder mindestens eine Dynamik aktiv strategisch angehen.
Eine gute Konzeption für eine Organisation
Systemdynamiken zu betrachten heißt auch theoretisch konzeptionell über ein Unternehmen nachzudenken. Zwar sagt der Volksmund »Grau ist alle Theorie.« Aber es gilt auch der Satz des Altmeisters der Sozialpsychologie Kurt Lewin: »Eine gute Theorie ist die beste Praxis.« Dies verweist darauf, wie wichtig die konzeptionelle Ausrichtung für das Vorgehen ist. So unentbehrlich die Intuition für unternehmerisches Vorgehen ist, so wichtig ist ein bewusstes und durchdachtes Konzept. Sonst wird das Unternehmen nur ein kurzes Aufflackern im wirtschaftlichen Geschehen sein. Zahlreiche Unternehmen der New Economy hatten ein zu wenig durchdachtes Konzept, wurden schnell zu hoch bewertet und sind deshalb gescheitert, nicht wegen der umschlagenden Konjunktur.
Erfassung und Einflussnahme
Mit dem Modell der Systemdynamiken ist die Beschreibung jedes Systems möglich. Man erhält die konkrete Beschreibung der Charakteristik eines Unternehmens- oder Organisationssystems. Dabei sind entsprechend des Arbeitsziels weitere spezifische Fragestellungen hilfreich:
– Von wo kommt die Organisation auf den einzelnen Dimensionen?
– Wie entstehen die spezifischen Ausprägungen?
– Was hält sie aufrecht?
– Wie ist der aktuelle Status auf den Dimensionen?
– Wo