Bald alt? Na und!. Nora Aschacher

Bald alt? Na und! - Nora Aschacher


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wir mit Radikalität als alte Menschen nicht auch das Ziel, wenn nicht jetzt, wann sonst wollten wir die Welt verändern?“, fragte die Grande Dame der Psychoanalyse Margarete Mitscherlich, und die deutsche Politikerin Rita Süssmuth wird im Deutschlandfunk vom 30. 11. 2012 mit dem Satz zitiert: „Mein Denken ist heute sehr viel radikaler als mit 30 Jahren. Nicht nur die Jungen haben Ideale und Visionen – wir Älteren denken tiefer darüber nach, was wir verändern möchten, und bleiben an den Zielen dran. Visionen und Ideale verschwinden nicht mit dem Älterwerden, im Gegenteil.“

      So ist es. Daher protestierten Rentner in Dublin gegen brutale Sparmaßnahmen der Regierung, standen Weißhaarige in Chile an der Seite jugendlicher Demonstranten für gebührenfreie Schulen und Universitäten, machten Ältere mit bei der Occupy-Bewegung, wandten sich sogenannte Straßenoldies in Spanien gegen Banken und Regierung, formierte sich beim Bahnprojekt Stuttgart 21 ein „Block der Grauhaarigen“.

      In Japan demonstrierten ältere Menschen nach Fukushima für ein Ende der Atomkraft, in Argentinien haben die „Großmütter der Plaza de Mayo“, entstanden zur Zeit der Diktatur, die Suche nach den damals verschwundenen und geraubten Enkelkindern bis heute nicht aufgegeben, und in den USA wurde eine 84-jährige Nonne verurteilt, weil sie in Tennessee in die mangelhaft geschützte Atomanlage eindrang und eine Friedensfahne schwenkte. Also Schluss mit der Gelassenheit, der Konzentration ausschließlich auf die Interessen des eigenen Bauches. Schluss damit, die Zeit im Alter mit Trivialitäten und Spielereien zu verplempern. Betty Friedan, berühmte amerikanische Altersforscherin, plädiert für aktives Handeln im Sinne eines Vermächtnisses für die Enkel. Wir mögen die im Laufe des Lebens erworbene Weisheit und Generativität und das Wissen um die Entstehung des Sozialstaates einsetzen, um bei der Lösung der Probleme mitzuhelfen, vor der die Gesellschaft heute steht.

      Mitreden und Mitgestalten anstelle von Zuhören und Konsumieren. Würden viele von uns gerne, aber wo bitte wären die Foren, abgesehen von Demonstrationen und der Mitgliedschaft in politischen Parteien? Im Supermarkt, in der Straßenbahn, im Park beim Spielen mit den Enkelkindern? Na ihr könnt doch bürgerschaftliches Engagement zeigen, wird uns gerne empfohlen. Ja, könnten wir, und viele von uns übernehmen Ehrenämter, Freiwilligendienste, zivilgesellschaftliches Engagement oder wie auch immer sich unbezahlte Tätigkeiten nennen, wobei Untersu chungen festgestellt haben, dass das ehrenamtliche Engagement bei den über 60- bis 65-Jährigen eher rückläufig ist. Hat vielleicht schon mal jemand nach den Gründen unserer Zurückhaltung gefragt, abgesehen davon, dass wir keine Zeit haben, weil wir uns bei der Betreuung unserer Enkelkinder oder unserer kranken Lebenspartner engagieren, weil speziell wir Frauen uns ein Leben lang um andere gekümmert haben und wir endlich mal eine Auszeit brauchen oder weil die Angebote, um es höflich auszudrücken, interessanter sein könnten. So wenig wie ich als älterer Demenzkranker von Menschen wie Silvio Berlusconi betreut werden möchte, ebenso wenig Lust habe ich, mit noch Älteren als ich Karten zu spielen, weil mich Kartenspiele grundsätzlich langweilen. Es scheint mir nicht extrem erfüllend, den Kirchenraum zu kehren, Altstoffe zu sammeln, ich will keine Folder an Kooperationsstellen verteilen, Besucherinnen begrüßen und Infoblätter ausgeben. Mein Glücksgefühl beim Adventkranzbasteln für den Weihnachtsmarkt oder Brötchenstreichen für das Sportfest hält sich in Grenzen. Büroarbeit war schon in jüngeren Jahren ein No-Go, und eine Datenbank pflegen, selbst wenn es zum Wohle der Kinder auf der ganzen Welt geschieht, wird von mir auch nicht als Highlight empfunden, für das ich Stunden meiner Lebenszeit hingeben würde. Ich möchte nicht als „kostengünstiges Dienstleistungs- und Wertschöpfungspotenzial“ wahrgenommen werden. Zum einen weil ich mehr kann, als angeboten wird, und zum anderen, weil einige dieser Angebote bezahlt werden sollten, damit junge Leute zu einem Nebenverdienst kommen. Ich will keine Löcher stopfen und Risse kitten, die durch falsche politische Entscheidungen entstanden sind, weil sich der Staat aus der sozialen Verantwortung zurückgezogen hat.

      Bei einem Besuch der Wiener Freiwilligenmesse 2014 im Museum für Angewandte Kunst stellte ich fest, der Andrang war enorm und viele Ehrenamtliche sind voll zufrieden mit dem, was sie tun. Allerdings gab es von keiner Organisation eine befriedigende Antwort auf meine Frage, ob es denn speziell konzipierte Projekte für Menschen 60plus gebe, bei denen wir Älteren einerseits unsere Erfahrungen einsetzen und andererseits etwas dazulernen könnten. Aufgefallen ist mir, dass nahezu jede Organisation Menschen sucht, die Kindern, mit oder ohne Migrationshintergrund, Nachhilfe geben. Da frage ich mich doch, gibt es keine allgemeine Schulpflicht mehr und wenn doch, was machen die in den Klassenzimmern? Andererseits weiß ich natürlich, dass zum Beispiel Lernpatenschaften, die Betreuung von Flüchtlingen, das Dasein eines Sport- oder Kulturbuddys befriedigend und sinnvoll sein können.

      Trotzdem bleibt ein ABER: eine freiwillige, unbezahlte Tätigkeit, die zwar die Sozial- und Kulturbudgets des Staates entlastet, aber das Können und Wissen von uns Älteren nicht wirklich einfordert, muss nicht automatisch als Bereicherung empfunden werden. Im Gegenteil. Es wäre also hoch an der Zeit, die Rahmenbedingungen für Ehrenamt und Engagement neu zu definieren, denn eine Gesellschaft des langen Lebens braucht utopische Bilder eines solidarischen, nachhaltigen Zusammenlebens. Für mich wird sich das Reformprogramm wohl nicht mehr ausgehen, hält man sich die Trägheit der Institutionen vor Augen, aber dann hoffentlich für die nächste Generation der Alten.

      Wege zu sich selbst

      Kulturwandel ist angesagt. Bei vielen von uns bekommt nun die Erforschung des eigenen inneren Prozesses in Wechselwirkung mit der äußeren Welt einen besonderen Stellenwert. Sie wollen ihr Leben und das ihrer Familie und Freunde besser verstehen. Nach außen gerichtete Aktivität alleine wird von ihnen als unbefriedigend empfunden, sie versuchen herauszufinden, was dieser Lebensabschnitt Alter bedeutet.

      Wenn wir uns nicht mehr über Beruf, Leistung, Konsum definieren können oder wollen, sondern nur mehr über das, was uns als Mensch ausmacht, dann haben wir – vielleicht zum ersten Mal – die Möglichkeit, uns selbst kennenzulernen. Für diese Reise in die Innenwelt, ob mit Hilfe von Psychotherapie oder in Selbstbeobachtung, ist es nie zu spät. Möglicherweise braucht es gerade für diese Expedition ein gewisses höheres Alter. Von Nasreddin, dem weisen Narr des Orients, gibt es folgende Geschichte:

      Nasreddin sitzt als alter Mann mit seinen Freunden im Teehaus und blickt auf sein Leben zurück: „Als ich jung war, war ich voller Tatendrang. Ich wollte jedermann ändern und bat Allah um die Kraft, die Welt zu ändern. Die Jahre vergingen, ich wurde älter und erkannte, dass mein halbes Leben vorbei war und ich niemanden geändert hatte. So bat ich Allah um die Kraft, jene in meiner Nähe zu ändern, die es am nötigsten hatten. Wieder vergingen viele Jahre, nun bin ich alt und mein Gebet ist einfacher: ,Allah‘, bete ich, ,bitte gib mir die Kraft, wenigstens mich selbst zu ändern.‘“ Einige von uns begeben sich auf eine spirituelle Reise und wählen Wege, die so vielfältig sind wie die Menschen auf der Suche. Innehalten, Nachdenken, In-Sich-Hineinhören, Selbstbesinnung, Kontemplation, Gebet, Meditation kennen tatsächlich kein Alterslimit. Diese Wendung nach innen muss nicht automatisch ein Gegensatz zu politischer Aktivität sein, sie kann als Ergänzung gesehen werden, die uns bisher nicht möglich war. Wir haben nun den Luxus, uns die Zeit zu nehmen, um uns eine der schwierigsten Lektionen anzueignen, die von keiner Agentur für lebenslanges Lernen und keinem Grundtvig-Erwachsenenbildungs-Programm angeboten wird: im Hier und Jetzt zu leben, achtsam zu sein. Leider gibt es in unserer Gesellschaft keine Mynas, keine sprechenden Vögel wie in Aldous Huxleys Buch „Eiland“, die herumfliegen und die Bewohner der Insel mit ihren „Hier und Jetzt“-Rufen daran erinnern, darauf zu achten, was in diesem Augenblick geschieht.

      In einer Geschichte, die einem unbekannten Zen-Meister zugeschrieben wird, fragt einmal ein Schüler seinen Lehrer, wie dieser es schaffe, Gelassenheit, Ruhe und Achtsamkeit auszustrahlen. Der Lehrer soll darauf geantwortet haben:

      „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich.“ Der Schüler fiel dem Meister in Wort und sagte: „Aber das tue ich auch! Was machst Du darüber hinaus?“

      Der Meister blieb ganz ruhig und wiederholte wie zuvor: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich …“

      Wieder sagte der Schüler: „Aber das tue ich doch auch!“


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