Achtsam führen (E-Book). Jörg Krissler

Achtsam führen (E-Book) - Jörg Krissler


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der Vergangenheit orientieren will. Möglichst anders sein als die anderen, so lautet das Credo. Organisationen, die dem gerecht werden, in denen Mitarbeitende zu Mitgestaltern werden, sind solche, in denen Fehler zuweilen passieren müssen, um weiterzukommen. Was aber falsch ist und was kreativ, ist immer wieder neu zu klären. Hier einen Weg – die Balance – zu finden, gelingt nur durch einen engen Kontakt der Führungskräfte mit ihren Mitarbeitenden.

      Der Gegenentwurf ist die Kopie der unfehlbaren Maschine wie der Produktionsroboter, an den keine menschliche Leistung heranreicht. Dazwischen liegt das aus dem Spitzensport bekannte Modell. Computer ermitteln für Schwimmerinnen und Skispringer individuell die perfekte Bewegungsabfolge und Schwimm- beziehungsweise Fluglage. Hier muss der Mensch zwar maschinenähnlich werden, wenn er Erfolge erzielen will, aber letztlich ist es doch seine Eigenheit, durch die sich das Individuum von anderen abhebt. Niemand würde vor dem Fernseher sitzen wollen, um Maschinen sich im Wettkampf messen zu sehen.

      Für die Wirtschaft ergeben sich drei mögliche Varianten von Zielzuständen.

      1.Mitarbeitende werden als Menschen anerkannt. Sie denken mit und handeln individuell. Fehler sind erlaubt und werden sogar ermöglicht. Der Prozess und das Erreichte werden evaluiert, damit sich Schlüsse ziehen lassen. Hier sprechen wir von einer lernenden Organisation.

      2.Fehler sind möglichst zu vermeiden, individuelle Entscheidungen höchstens geduldet. Die Mitarbeitenden funktionieren weitgehend wie Maschinen und sind deshalb in ihrer Position durch digitale Technologien zunehmend bedroht.

      3.Gefragt ist rein rationales, fehlerfreies Handeln, das konstante Resultate erzielt. Darin sind Maschinen zuverlässiger als Menschen, die deshalb durch die voranschreitende Digitalisierung bald ersetzt werden.

      In einem ersten Schritt mag es einfacher sein, sich an Erprobtem und Bewährtem zu orientieren. Wer es wagt, sich davon zu lösen, ermöglicht neue, kreative Gedanken und Ideen. Eine humane Führung setzt auf die Innovationskraft von (fehlbaren) Menschen. Je nach Geschäftssituation kann es natürlich sinnvoll sein, auf die zweite oder dritte der aufgezählten Varianten zu setzen. Es erfordert einige Klarheit von Vorgesetzten, dies zu erkennen und innerhalb eines strategischen Prozesses beziehungsweise im Sinne von einzelnen operativen Entscheidungen anzuwenden. Erfahrene Führungskräfte klären immer wieder neu, wo es zuverlässiger Präzision bedarf oder wann neue Denkansätze out of the box einen Mehrwert bringen. Grundsätzlich bestehen jene Unternehmen auf dem Markt, die Individualität vorziehen und repetitive Aufgaben der Technologie überlassen, weil sie dies innovativ und für die heutigen Verhältnisse agil genug macht.

      Leitfragen und Notizen

      Worin unterstützen mich digitale Technologien besonders?

      Wie gut gelingt es mir, die Möglichkeiten der Digitalisierung maßvoll zu nutzen?

      Wo möchte ich ganz bewusst «analog» handeln?

      Wenn sich Kulturen zueinander hinbewegen, entsteht, sobald zu große Unterschiede aufeinanderprallen, das Bedürfnis nach Abgrenzung und Individualität. Megatrends wie Individualisierung und Konnektivität stehen öfter in Konkurrenz zueinander, können sich aber auch ergänzen.

      Individualität ist die Freiheit, für sich selbst zu wählen und Sinn zu stiften. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl formuliert das so:

       Nun, wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Beides, Erfüllung und Begegnung, gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust. (…) Zur Ausbildung des Willens zur Lust beziehungsweise des Willens zur Macht kommt es jeweils erst dann, wenn der Wille zum Sinn frustriert wird … 2

      Jüngeren Generationen stehen heute Angebote zur Verfügung, die an das Prinzip des permanent sich expandierenden Universums erinnern. Abwechslung und Spaß werden zu vordergründigen Resonanzkörpern in einer unübersichtlichen Welt. Verantwortung zu übernehmen, ist in Ordnung, aber nicht um jeden Preis. Diese wird sehr gerne delegiert. Dem Drang nach individuellem Sinnerleben steht mit der Konnektivität eine Herausforderung gegenüber, die ohne Verantwortungsübernahme nicht gelingen kann. Der nach innen wie auch nach außen gerichteten Sinnhaftigkeit kommt eine Schlüsselqualität zu, weil durch sie das eigene Erleben mit dem übergeordneten System abgeglichen wird. Aus Sicht der Unternehmung schafft die Sinnhaftigkeit eine Metaordnung, die stabilisiert, motiviert und zudem einen wirtschaftlichen Nutzen generieren kann. Die Work-Life-Balance ist zum geläufigen Begriff geworden. Die ihm implizite Polarität ist allerdings irreführend. Als ob es eine Arbeit ohne Leben, ein Leben ohne Arbeit geben würde. Die Pole haben sich längst in einer Multidimensionalität von Aktivitäten aufgelöst. Darin zeigen sich unter anderem die veränderten Werte und Bedürfnisse jüngerer Generationen. Es ist zur Herausforderung geworden, dem stetig zunehmenden Angebot gewachsen zu sein. Die permanente Abrufbarkeit hängt stark mit der allgegenwärtigen Vernetzung zusammen.

      Die Konnektivität bietet zweifelsohne Vorteile, weil sie Auseinandersetzung von Einzelnen in der regionalen bis globalen Gemeinsamkeit ermöglicht. Erst dadurch erhält das eigene Erleben die nötige Resonanz und erfährt Bestärkung oder Widerstand. Meinungen können gespiegelt und kontrovers diskutiert werden. So geschieht Entwicklung, also auch das moderne Lernen.

      Aber es besteht ein großer Druck, dem Vergleich mit den Kolleginnen und Kollegen standhalten zu können. Multitasking ist in. Das ist im Freizeitverhalten wie in beruflichen Kontexten problematisch. Beunruhigend, dass Menschen, die chronisch Multitasking betreiben, annehmen, sie seien gut darin.3 Erwiesenermaßen steigt nämlich die Fehlerquote bei der gleichzeitigen Konzentration auf mehrere Dinge deutlich, und für die einzelnen Arbeiten braucht es mehr Zeit. Wie die möglichen Konsequenzen in Freizeit und Beruf aussehen, können wir uns ausmalen. Es würde sich in jeder Hinsicht lohnen, etwas mehr Ruhe in die Sache zu bringen, konsequenterweise auch in der Freizeit. Schmidt-Tanger schreibt:

      Zielstrebigkeit, Tatkraft und Schnelligkeit haben wir genug. Was wir brauchen, sind Vorbilder für verlorene Dimensionen unseres Daseins: Zeit haben, loslassen, sich der Welt überlassen, sich vertiefen, Ruhe, Sammlung und Empfänglichkeit. Nicht umsonst ist das Kloster ein beliebter Urlaubsort für Manager! Entziehen Sie sich der Droge des dauernden Tätigseins, eignen Sie sich das Leben wieder an. Ihre daraus resultierende Anziehungskraft für andere wird Sie überraschen. Dann würde man Ihnen ansehen, dass Sie gerne Leben und Ihr Vermögen aus Zeit und Zufriedenheit besteht.4

      «Halbe Kraft voraus» lautet ein Artikel in der Wirtschaftszeitung «Bilanz». Darin steht: «Wenig Stress, viel Freizeit, Aufstieg nicht um jeden Preis: Der Schweizer Nachwuchs stellt hohe Ansprüche an den Job. Zu hohe, meinen viele. Wird die Wohlstandsinsel Schweiz zum Wettbewerbsnachteil?»5 Heißt: zuerst die Freizeit, die Life Balance. «Klar will ich gut verdienen. Oberste Priorität hat aber meine Gesundheit», wird in der «Bilanz» eine junge Studentin aus dem Bereich Business Communication in Bern zitiert.6

      Das Geld allein bewegt heute in der Wirtschaft kaum jemanden mehr. Es rücken Werte, persönliche Beweggründe und Bedürfnisse in den Vordergrund. Diese sollten erkannt und akzeptiert werden, damit sich bei gewahrter Individualität ein Gefühl von Verbundenheit einstellt. Führungskräfte müssen alle Mitarbeitenden auf fachlicher wie auf persönlicher Ebene achten und schätzen. Menschen, die sich mit ihren Vorgesetzten und in ihrem Team wohlfühlen, fühlen sich in der Regel auch mit ihrer Arbeit wohl.

       Leitfragen und Notizen

      Wo nutze ich die Möglichkeiten der Individualisierung im Alltag?

      Wo stehe ich eher für lokale Vernetzungen ein?

      Wie ermögliche ich Individualisierung und Konnektivität?