Das Wunder von Bern. Marion Döbert

Das Wunder von Bern - Marion Döbert


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      Ruß klebt auf den Straßen, an Türen und Wänden.

      Und sogar auf dem Weiß-Kohl im Gemüse-Garten.

      Bei uns im Pott sagt man statt „arbeiten“: „malochen“.

      Das ist nämlich viel härter als nur arbeiten.

      Wir sagen auch nicht wie die feinen Leute

      „das“ und „was“. Wir sagen „dat“ und „wat“.

      Wir strecken auch nicht beim Trinken

      den kleinen Finger von der Hand weg.

      Und wir essen, weil wir Kohl-Dampf haben.

      „Kohl-Dampf“ sagen wir, wenn wir Hunger haben.

      Hunger kennen wir noch vom Krieg. Aber jetzt

      haben wir nur noch Hunger vom vielen Malochen.

      Der Krieg ist zum Glück schon neun Jahre vorbei.

      Unser Ruhr-Pott geht von Duisburg bis Dortmund,

      und mittendrin liegt Essen.

      Genau da wohnt unsere Familie.

      Wir, die Familie Lubanski.

      Aber wir sind nicht irgendeine Familie.

      Wir sind keine normale Familie

      mit Vater, Mutter, Kind.

      Bei uns fehlt nämlich das Wichtigste: der Mann, der Vater, das Oberhaupt der Familie.

      Normal sitzt der Vater beim Essen

      immer an derselben Stelle. Am Kopf des Tisches.

      Da, wo man den ganzen Raum übersehen kann.

      Da, wo man alles im Blick hat.

      Da, wo man alles kontrollieren kann.

      Da, wo kein anderer sitzen darf.

      Nur das Oberhaupt der Familie darf da sitzen.

      Und das Oberhaupt ist immer der Vater.

      Das Oberhaupt ist immer der Mann.

      Bei uns ist das anders:

      Bei uns sitzt Benno am Kopf des Tisches.

      Benno ist der Älteste von uns drei Kindern.

      Benno ist schon 18.

      Er ist fast schon fast ein Mann.

      Benno lässt sich nicht mehr alles sagen.

      Auch nicht von unserer Mutter Christa,

      die ihm am Tisch gegenüber sitzt.

      Am anderen Ende des Tisches sitzt sie.

      Da hätte sich unser Vater Richard

      niemals hingesetzt.

      Damals, als er noch nicht verschwunden war.

      Damals, als Richard noch das Oberhaupt der

      Familie war.

      Jetzt sitzt sein Sohn Benno auf seinem Platz.

      Unsere Schwester Ingrid hört noch auf unsere Mutter.

      Obwohl Ingrid auch schon fast 17 ist.

      Ingrid ist verdammt hübsch.

      Sie sieht überhaupt nicht mehr aus wie ein Kind.

      Ingrid Lubanski sieht so klasse aus, dass die Kerle sich nach ihr umdrehen.

      Und dann ist da noch der Kleinste: Matthias

      Lubanski. Bei allen heißt er nur Matthes.

      Mit seinen elf Jahren sieht er die Welt noch mit Kinder- Augen.

      Anders als sein Bruder Benno oder seine Schwester

      Ingrid. Und ganz anders als seine Mutter Christa.

      Matthes hat noch Träume. Matthes liebt Fußball.

      Rot-Weiß Essen. Das ist seine Mannschaft.

      Bei Rot-Weiß spielt Helmut Rahn.

      Für Matthes ist der ein Fußball-Held.

      Matthes darf ihm die Tasche mit seinem Sport-Zeug tragen.

      Dann, wenn es zum Training geht.

      Bei uns in Essen wird Rahn nur „der Boss“ genannt.

      Der kann nämlich richtig guten Fußball schießen.

      Der ist der Fußball-König vom Ruhr-Pott.

      Für Matthes ist Fußball alles! Und wenn Rot-Weiß

      Essen verliert, darf keiner von uns eine blöde

      Bemerkung machen.

      So wie heute beim Abend-Essen:

      Mama betet mit uns das Tisch-Gebet,

      und wir fangen an zu futtern.

      Nur Matthes nicht.

      Der reibt mit dem Finger auf dem Tisch herum.

      „Matthes, du musst was essen“, sagt Mama.

      „Hab keinen Hunger“, flüstert Matthes.

      „Rot-Weiß hat verloren.“

      Mama lacht: „Die verlieren doch immer.“

      Das ist zu viel für Matthes. Er steht auf, geht hinaus.

      Hinaus in den kleinen Garten, zum Kaninchen-Stall.

      Da krabbelt er hinein und erzählt seinen beiden

      Kaninchen von seinem Kummer:

      „1: 0. Wir haben verloren. So werden wir nie

      deutscher Meister.“

      Die beiden Kaninchen, Atze und Blacky,

      gehören auch zu unserer Familie.

      Für Matthes sind sie wie Seelen-Tröster.

      Wenn er traurig ist, kriecht er zu ihnen in den Stall.

      Dann futtert er mit ihnen die alten Möhren.

      Und wenn er mit ihnen spricht, geht es ihm gleich viel besser.

       Die Kneipe

      Unsere Mutter Christa versucht, unsere Familie über die Runden zu bringen.

      Vier Köpfe ernähren, das ist kein Pappen-Stiel.

      Als der Krieg vorbei war, hat unsere Mutter eine alte Eck-Kneipe gekauft.

      Dunkel und ungemütlich war die Kneipe damals.

      Alles hat gestunken, nach altem Bier und altem Rauch.

      Unsere Mutter Christa hat erst mal Ordnung

      geschaffen. Sie hat die Kneipe entrümpelt,

      gestrichen, geputzt, gewischt und dann die Gläser blank poliert. Seitdem ist „Das Eck“ ein Treffpunkt für alle.

      Für alle, die bei uns um die Ecke wohnen.

      Und für alle, die um die Ecke arbeiten.

      Zum Feierabend ein frisches Pils trinken! Lecker!

      Zusammen an der Theke sitzen und quatschen,

      das gefällt den Leuten hier. Vor allem jetzt,

      kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 1954.

      „Dat schaffen wir nie bis dahin“, sagt Paule an der Theke.„Da muss man dran glauben“, meinen die anderen. „Sonst wird dat nämlich nix.

      Christa mach mal noch` n Pils für den Paule!“

      Christa zapft das Bier und bedient.

      Ingrid hilft dabei.

      Benno nicht. Der macht Musik in einer


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