Das Wunder von Bern. Marion Döbert

Das Wunder von Bern - Marion Döbert


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Wie zu der Zeit, als Vater Richard noch das Oberhaupt der Familie war.

      Benno spielt Gitarre. Elektro-Gitarre. Fetzige Musik: Boogie-Woogie.

      Heiße Musik. Amerikanische Musik! Das ganze

      Zeug, das im Krieg verboten war, das spielt er jetzt mit seiner Band.

      Solche Musik durfte man damals nicht mal im Radio hören. Dann ging es ab in den Knast! Oder sonst wo hin. Auf jeden Fall stand das unter Strafe, alles Amerikanische, alles Englische, alles Ausländische. Damals war nur alles Deutsche gut. Damals unter den Nazis.

      Deutsche Ordnung, deutscher Gehorsam, deutsche Mütter, deutsche Musik.

      Benno verachtet alles, was mit den Nazis zu tun hat.

      Einmal hat Mama beim Nachbarn gefragt,

      ob Benno bei ihm eine Lehre machen kann.

      Zum Elektriker. „Dann soll er mal kommen“,

      hat der Nachbar geantwortet.

      „Warst du heute auf deiner Lehr-Stelle?“,

      fragt Mama beim Essen.

      „Da gehe ich nicht hin“, sagt Benno.

      „Ich mache keine Lehre bei einem Nazi.

      Außerdem bin ich Musiker.

      Wir spielen alles, was ihr früher Neger-Musik genannt habt.

      Was wir spielen, ist richtige Musik. Und mit der Band kann ich auch Geld verdienen.“

      „Am Wochenende musst du in der Kneipe helfen“, sagt Mama zu Benno.

      „Geht nicht. Da spiele ich mit der Band.“

      Mama sagt weiter nichts.

      Sie weiß: Benno macht sowieso, was er will.

       Der Vater

      Ganz alleine hat Christa „Das Eck“ aufgebaut, denn ihr Richard ist nicht zurückgekommen aus dem Krieg. Früher, da hat er die Familie ernährt. Richard war Bergmann.

      So wie viele Männer im Pott.

      Tag für Tag ist Richard in die Kohlen-Grube eingefahren. Runter unter die Erde. „Unter Tage arbeiten“ nennt man das. Weil das Tages-Licht oben bleibt, während der Aufzug in die Tiefe stürzt. Dunkel und dreckig war seine Arbeit.

      Und hart, denn die Kohle wurde mühsam aus den Wänden gehauen.

      „Papa ist in Gefangenschaft bei den Russen“, hat Mama uns damals erklärt.

      Kriegs-Gefangenschaft. Seit elf Jahren ist er nun schon verschwunden.

      Elf Jahre, das ist so viel, wie Matthes alt ist.

      Ob Richard wohl tot ist? Oder lebt er noch?

      Wenn er lebt, wo ist er dann? Kommt er eines Tages vielleicht doch noch wieder?

      Wie oft stellt sich Christa diese Fragen. Dann denkt sie: „Richard. Mein Richard. Es ist nicht leicht ohne dich.“

      Aber das Leben musste trotzdem weitergehen.

      Auch ohne Papa.

      Benno und Ingrid fragen nicht mehr oft nach Papa.

      Matthes fragt überhaupt nicht nach ihm.

      Matthes hat seinen Vater ja nie gesehen.

      Was ist das, ein Vater? Das fragt er sich manchmal.

      Und dann kommt Matthes zu dem Schluss:

      Ein Vater, das ist so etwas wie ein Fußball-Spieler.

      Ein Fußball-Held.

      Ein Vater ist ein Held! Einer, den man bewundert.

      Einer, der alles kann.

      Vor allem Fußball spielen!

       Der Boss

      Matthes klingelt Sturm. Immer wieder drückt er auf die Klingel mit dem Namen Rahn. Nichts rührt sich. Matthes sieht nach oben.

      Das Fenster vom Schlaf-Zimmer oben ist offen.

      Schnell sucht Matthes

      ein paar Steine und wirft einen nach dem anderen in das offene Fenster.

      „Ey, willze mich umbringen?“, Helmut Rahn steht oben am Fenster.

      Im Unterhemd, verpennt und mit wirren Haaren.

      „Wir müssen uns beeilen, Boss“, ruft Matthes zu ihm herauf.

      „Wir müssen zum Training.“

      „Wat, wieso, wie spät is denn?“, fragt der Boss.

      „Halb fünf schon.“

      „Viertel-Stunde, dann bin ich unten.“

      Das Fenster geht zu.

      Als der Boss endlich aus der Tür kommt, drückt er Matthes seine Tasche mit dem Sportzeug in die Hand.

      „Spinnst du? Kannze mir doch nich Steine an den Kopp werfen. Das hätte dein Vorgänger, der Mischa, nie getan.

      Und nach dem Spiel hatte Mischa immer

      zwei Flaschen Bier für mich. Schön gekühlt.“

      Matthes bekommt es mit der Angst zu tun, und fast weinend fragt er den Boss:

      „Willst du den Mischa lieber wieder als

      Taschen-Träger haben?“

      Da merkt der Boss, dass er zu hart zu Matthes war.

      Er beugt sich zu ihm hinunter

      und packt ihn an den Schultern.

      „Nee, Matthes, so war dat nich gemeint.

      Du bist doch mein Maskottchen.

      Du bringst mir doch immer Glück.

      Ohne dich kann ich doch die wichtigen Spiele gar nicht gewinnen!“

      Matthes strahlt über das ganze Gesicht.

      Der Boss, der ist und bleibt sein Boss.

      Und der Boss braucht ihn. Ihn, Matthias Lubanski, um gewinnen zu können.

       Der Brief

      Drei Tore hat der Boss beim Training geschossen.

      Und das, obwohl er so verpennt war.

      Angeblich war er wegen einer Besprechung zu spät ins Bett gekommen.

      Aber Matthes glaubt eher, dass der Boss zu viel Bier getrunken hat. Egal!

      Die Tore waren einfach klasse!

      Glücklich hüpft Matthes nach Hause. Da will er erst mal erzählen, wie der Boss an allen Spielern vorbeigezogen ist. Wie der rennen kann, und wie der täuschen kann.

      Und dann schießt er zum Schluss wieder ein Tor!

      Aber als Matthes in die Küche kommt, ist alles anders.

      Mama, Benno und Ingrid sitzen am Tisch.

      Auf dem Tisch liegt ein Brief.

      Alle drei sehen Matthes schweigend an.

      „Was ist denn los?“, fragt Matthes.

      „Mama wollte den Brief erst aufmachen, wenn alle da sind.“

      Matthes setzt sich an den Tisch. Er schaut auf den Umschlag. So einen haben sie schon mal bekommen. Vor ein paar Jahren.

      In dem Brief wurde damals mitgeteilt, dass die

      Männer zurückkommen würden. Die Männer aus der russischen Kriegs-Gefangenschaft.

      Mama, Benno, Ingrid und Matthes hatten sich ihre Sonntags-Kleidung angezogen und waren dann zum Bahnhof gegangen. Viele Männer waren damals aus dem Zug


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