Die Liste vor der Kiste. Ruediger Dahlke

Die Liste vor der Kiste - Ruediger Dahlke


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Stunden durchlitten, sollten wir auf bessere hoffen. Wir können also verhindern, voller Fehler und Täuschungen auf der Strecke zu bleiben und bei der Bilanz am Ende in Enge und Angst zu geraten.

      »Nur wer wagt, gewinnt«, lehrt das Sprichwort, und das gilt fürs ganze Leben. Wer es wagt und sein Leben lebt, wird am Ende gewinnen, jedenfalls viel eher als diejenigen, die es aufge(sc)hoben haben – um zum Schluss mit allem Offengebliebenen konfrontiert zu werden, mit Rechnungen, die dann nicht mehr oder nur noch sehr schwer und unter Zeitdruck zu begleichen sind.

      Gehen wir es an, das Leben. Und wer es wagt, sich Enttäuschungen zu stellen, wer sie als Ende von Täuschungen zu sehen lernt, der wird es leichter haben, sich seine Wünsche zu erfüllen und seine Träume zu verwirklichen, oder er vermag mit jeder Ent-Täuschung Stück für Stück diese Welt der Illusion aus Raum und Zeit mehr zu durchschauen. Aus spiritueller Perspektive können wir sowieso nur gewinnen, denn das eine ist so gut wie das andere, und alles wird gut mit dieser Lebenseinstellung. Fehler und Enttäuschungen als Chancen zu begreifen, ist demnach ein himmlischer, weil dem Himmel näherbringender Punkt auf unserer Liste.

      › Der Tod als Freund: Es ist viel mehr als nur ein guter Trick, den Tod als Freund und Lebenshelfer und manchmal sogar Lebensretter anzuerkennen und einzubinden. Der Familientherapeut Bert Hellinger ließ nach schwerer Krankheit und im bereits hohen Alter auf der Bühne einen Sessel für den Tod aufstellen – direkt neben sich. Der Effekt war tief und verblüffend. Es war einer der Vorträge, die ich nicht vergessen werde. Letztlich ist es also nicht erstaunlich und befremdlich, wenn Gevatter Tod in der Literatur als Freund (Hein) dargestellt wird, der hilft, vieles noch in Ordnung zu bringen, bevor es endgültig zu spät ist. Es wird nur ein wenig enger auf der Couch, wenn man spürt, dass er immer neben einem sitzt. Hier ist nicht nur an Hugo von Hofmannsthals Jedermann und seinen bayerischen »Kollegen«, Franz von Kobells Brandner Kaspar, zu denken. In dem sehenswerten Film Rendezvous mit Joe Black erscheint der Tod ganz menschlich und in der Gestalt von Brad Pitt sogar ausnehmend attraktiv. Zum Schluss macht der Tod alle ehrlich und räumt so lange auf, bis alles wieder in Ordnung ist – und niemand kann das besser als er. Lassen wir uns also von ihm helfen, unser Leben aufzuräumen.

      Auch Volkslieder widmen sich häufig diesem wahrscheinlich wichtigsten Thema des Lebens, etwa in Hoch auf dem gelben Wagen, in dem der Tod als Schwager mit auf dem Kutschbock sitzt. Was auch immer an Themen hochkommt auf der Lebensreise, der Refrain macht klar: »… aber der Wagen, der rollt«. Das Leben folgt seinem Rhythmus, auch wenn einer geht und die Ebene wechselt; der Wagen des Lebens rollt weiter und darüber hinweg. Das Leben macht nicht halt.

      Gevatter Tod wird schlussendlich auf alle Fälle helfen, vieles selbst noch auf dem Totenbett in Ordnung zu bringen. Darüber hinaus besteht sein besonderes Geschenk an uns darin, ihn schon jederzeit vorher einladen, kennenlernen und seine bereitwillig angebotenen Gaben in Form von Erkenntnissen in Empfang nehmen zu dürfen. Sein größtes Geschenk ist Ehrlichkeit sich selbst, anderen und dem Lebensweg gegenüber. Doch da gibt es noch etwas: Die Franzosen nennen den Orgasmus le petit mort, den »kleinen Tod«. Er lässt uns aber nicht die Endlichkeit, sondern die Unendlichkeit erfahren.

      Der Tod, der uns unsere Endlichkeit vor Augen führt, verbindet uns mit der Unendlichkeit. Das macht ihn so faszinierend und wichtig. Aber wir können diesem Augenblick von Wirklichkeit in der Zeit auch fern vom physischen Tod begegnen, nicht nur im Orgasmus, sondern etwa auch bei der Meditation. Zen-Meister Deshimaro sagte, er steige in die Grube, wenn er sich zum Zazen setze, und meinte, sein Ego müsse dabei sterben.

      Das Ego ist es, das uns an die beiden großen Täuscher, Raum und Zeit, kettet und uns vorgaukelt, wir hätten alle Zeit der Welt, und uns damit von der einzigen Zeit fernhält, in der wir wirklich leben können: dem Hier und Jetzt. Wann immer wir in die Gegenwart eintauchen, wachsen wir über die Endlichkeit hinaus und erfahren Unendlichkeit – das sind Augenblicke des Erwachens.

      Alles, was die Illusion zerstört, wir hätten noch alle Zeit der Welt, kann uns helfen, natürlich auch Momente der Lebensfreude, in denen wir wirklich ankommen wie beim Augenblick des Loslassens im Orgasmus, wenn das Ego mitten im Leben sterben kann – für kurze Zeit. Den Tod in Zukunft auch schon in jedem Alter als Freund zu sehen, könnte uns im Leben unglaublich punkten lassen.

      Das Beste kommt zum Schluss

      Der Filmtitel Das Beste kommt zum Schluss scheint allem zu widersprechen, was der westliche Mensch so glaubt. Die Moderne hat in einem beispiellosen Jugendkult den Tod weitestgehend verdrängt. Das hat allerdings kaum jemanden glücklich und das Ende zu einem Desaster gemacht. In Heime und Asyle abgeschoben, fühlen sich die Alten, deren Zahl obendrein überproportional zunimmt, weder wohl noch angenommen. Und so werden wir entsprechend dem Schattenprinzip auch auf allen Ebenen immer mehr mit dem Thema Alter konfrontiert, gerade weil wir es nicht mögen. Daten und Fakten dokumentieren die Überalterung der Gesellschaft. Die Alterspyramide ist schon längst keine mehr, sondern zeigt Ausformungen wie ein umweltgeschädigter Baum, der mit seinen Fluchttrieben an der Spitze eine Art Storchennest bekommt. Während Hundertjährige längst keine Seltenheit mehr sind, scheinen es Paare zu sein, die mehr als zwei Kinder bekommen. Viele wollen nur ein Kind und die meisten keins. Die Renten der vielen Alten seien von den wenigen Jungen kaum mehr zu finanzieren, heißt es, und auch das lässt alte Menschen sich nicht gerade beruhigt zurücklehnen und zufrieden entspannen. Sie erhöhe ständig die Lebenserwartung, hören wir von der Schulmedizin, dabei ist es bestenfalls die Alterserwartung, die wir erhöhen. Kindheit und Jugend, die wir so schätzen, werden im Gegenteil immer kürzer. Inzwischen kommt über die Hälfte der US-Kids in die Geschlechtsreife, bevor sie zehn sind, und zwar wegen der Mast mit Tierprotein und besonders Milch(produkten) voll von Wachstumsfaktoren. Die Jugendzeit wird ebenfalls verkürzt durch Herabsetzung der Volljährigkeit, denn Politiker hoffen, zum Dank von eben diesen Jungen gewählt zu werden. Länger wird dagegen nur die Zeit von der Lebensmitte bis zum Tod und damit das Alter, das wir so gar nicht mögen und am liebsten verdrängen. Aber gerade das, was wir ablehnen, drängt das Schicksal uns nach dem Schattenprinzip auf.

      Vor diesem Hintergrund behauptet nun dieser amerikanische Film gegen jeden Trend, das Beste käme zum Schluss, und belegt das auch noch mit bewegenden Bildern und dem besten, was Hollywood an Schauspielern zu bieten hat. Der Film ist wie eine Therapie(stunde), und tatsächlich lässt sich daraus mit wenig Aufwand eine wundervoll einfache, wirksame und dabei extrem (preis-)günstige Therapie fürs Leben entwickeln – und in meinen Augen brauchen wir alle Psychotherapie. Schon vor Jahrzehnten sagte der Gestalttherapeut Irving Polster, Psychotherapie sei zu schade, um Kranken vorbehalten zu bleiben. Selten hatte jemand so Recht.

      Damit meine ich nun nicht, alle sollten zum Analytiker gehen. Wir brauchen weder eine weitere die archetypisch männliche und sowieso schon übermächtige linke Gehirnhälfte betonende Analyse noch neues Futter für unseren nimmersatten Intellekt. Das bringt, wie der US-Großversuch in den Achtzigerjahren gezeigt hat, erschreckend wenig, höchstens dass die Filme von Woody Allen nach unzähligen Analysestunden deutlich besser geworden sind. Ich meine hier wirkliche Therapie mit tiefem Eintauchen in die Seelen-Bilder-Welt, um Zugang zum eigentlichen Leben mit seinen Empfindungen und Gefühlen, seinen Bildern und Visionen zu bekommen. Aus solch neuem Erleben des Lebens ergeben sich andere Schwerpunkte und Perspektiven, und wir kämen zurück zur alten Einschätzung und Ordnung, wie sie etwa das klassische Indien kennt. Dort sind idealerweise die ersten einundzwanzig Lebensjahre dem Lernen vorbehalten, die zweiten einundzwanzig der Familiengründung und dem Berufsleben, die dritten einundzwanzig dem Konsolidieren des Erreichten, um sich anschließend lösen zu können. Denn mit dreiundsechzig Jahren beginnen die letzten einundzwanzig Jahre der spirituellen Vervollkommnung mit dem Höhepunkt in der (Er-)Lösung des Heimgangs, dem Tod. Dieses letzte Viertel ist der – jedenfalls für Inder – entscheidende Quadrant des Entwicklungskreises, auf den alles hinausläuft. Daran lässt die östliche Philosophie wenig Zweifel. Das wird auch noch gelebt, etwa in Bali, wo das Alter und mit ihm die Alten in hohen Ehren stehen. Insofern illustriert der Film Das Beste kommt zum Schluss eine alte Idee und schlägt eine längst überfällige Korrektur des modernen Lebens vor. Außerdem lädt er dazu ein, über seine Bilderwelten in unsere eigenen einzutauchen und beide zu verknüpfen, bis wir in Trance geraten und Trance-formation erleben, das heißt, dorthin zu gehen, wo wirkliche


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