Wer regiert die Schweiz?. Matthias Daum
Gesetzesbestimmungen den Freiraum der Geldbranche zu beschränken. «Du, ich vertrete hier die Bahnhofstrasse»: Auf solch eine Anweisung hätte der SVP-Politiker nun nur noch mit Spott reagiert.
In der wackligeren Lage wurden jene stark, die Brücken bauen konnten, die mal hier, mal dort einen Verbündeten für ein gemeinsames Projekt fanden. Das hatte merkwürdige Folgen: Die Mitteparteien hatten seit 1983 zwar massiv an Wählerstimmen verloren – im Parlament aber konnten sie ihren Einfluss sogar ausbauen. So landete die CVP in mehr als zwei Dritteln und die FDP in knapp zwei Dritteln der Nationalratsabstimmungen unter den Siegern. Im Ständerat konnten die Mitteparteien ohnehin die Mehrheit bewahren, womit sie im kammerübergreifenden Geben und Nehmen sehr gute Karten hatten. Und selbst bei den Volksabstimmungen waren sie es, die notorischen Wahlverlierer, die am häufigsten als Sieger vor die Fernsehkameras treten konnten.
Auch da zeigte sich also, dass die Art der Vertretung in den Institutionen oder die formelle Stärke nicht unbedingt entscheidend waren dafür, ob einer viel oder wenig zu sagen hatte im Land.
La classe politique n’existe pas
Zu diesem Befund trug bei, dass die Parteien eher schwache Gebilde darstellten. Es waren Organisationen, in denen sich das Milizprinzip noch in recht reiner Form ins 21. Jahrhundert retten konnte. Selbst die Bundesratsparteien leisten sich heute weniger als zwanzig Vollzeitstellen; eine staatliche Finanzierung gibt es nicht, die Budgets und Geldflüsse werden weitgehend geheimgehalten; in den Vernehmlassungsverfahren, einem wichtigen Mittel der Beeinflussung, sind die Parteien lediglich eine Stimme zwischen vielen Verbänden und Gruppierungen; der Kantönligeist sorgt dafür, dass die Direktiven der Parteizentralen in der Anhängerschaft nur begrenzt wirksam sind. Und überhaupt hat die halbdirekte Demokratie den Nebeneffekt, dass sie die Parteien eher schwächt, weil sie anderen Gebilden mehr Möglichkeiten zur Mitsprache gibt. «Die Schweiz ist kein Parteienstaat», lautet denn der ebenso knappe wie klare Einleitungssatz des entsprechenden Kapitels im «Handbuch der Schweizer Politik». Die klassische Einflussachse zwischen Parteizentralen und Parlamentsbetrieb könnte in den letzten Jahren sogar noch etwas schwächer geworden sein, auch, weil auf Bundesebene wie in den Kantonen immer mehr Initiativen und Referenden lanciert, eingereicht und vom Volk angenommen wurden.
Wer regiert die Schweiz? Jedenfalls keine Strippenzieher oder Kapitäne, die im Parlament mit ein paar Drehungen am Steuerrad zielgenau bestimmen, wohin der Dampfer fahren soll. Keine Parteistrategen oder grauen Eminenzen, die langfristig planen können. Keine «Classe politique», welche wegweisende Beschlüsse beim Diner auskungelt. Die Regierung der Schweiz, so zeigt sich mehr und mehr, ist etwas sehr Organisches. «Als Politiker kann man sich nie direkt durchsetzen, selbst wenn man wüsste, was zu tun ist. Im besten Falle kann man mitbeeinflussen.» So drückte es Christoph Blocher 1995 gegenüber seinem Biografen Wolf Mettler aus. «Das Zermürbende und Frustrierende an der Politik ist die Machtlosigkeit.»
Zwei Jahrzehnte später quälte ihn dieses Gefühl offenbar immer noch.
Der Herr Nationalrat, den wir hier Johannes Müller nennen wollen, quält sich um fünf Uhr dreissig morgens aus dem Bett. Es ist ein Dienstag im September, es läuft die zweite Woche der Session, dieses Quartalstreffens der Parlamentarier. Sein Einzelzimmer im Hotel Bern, Zeughausgasse 9, ist seit drei Legislaturperioden dasselbe, also seit seiner Wahl nach Bern, man kennt sich. Der Herr Nationalrat, der nicht zu den bekannten Gesichtern der Bundespolitik gehört, könnte, wenn er denn wollte, auch ohne Licht vom Bett ins Badezimmer finden. 63 Jahre alt ist Müller jetzt, damit liegt er gut zehn Jahre über dem Altersdurchschnitt im Parlament. Nach dieser Legislatur wird Schluss sein, das hat er sich geschworen und seiner Familie versprochen.
Im Frühstücksraum warten dieselben Menschen wie immer, seine Kollegen und Kolleginnen aus dem Rat, viele junge Frauen sind das unterdessen, denkt Müller immer mal wieder. Er setzt sich zu einem Ständerat aus der Innerschweiz, von dem er weiss, dass er ihn um diese Tageszeit ansprechen darf. Früher, da waren sie hier unter sich, unter Christdemokraten also, die Linken sassen anderswo. Das war, als die CVP noch klar bürgerlich war. Heute sind nicht einmal mehr die Hotels eine sichere Burg. Alles geht durcheinander, man verbündet sich mal mit diesen und mal mit jenen. Die Christdemokraten gefallen sich als Zünglein an der Waage, koalieren mal mit den Rechten, mal mit den Linken.
Müller und sein Kollege besprechen am Frühstückstisch das, was Männer halt besprechen, wenn ihnen nichts anderes einfällt, Dinge, die der Tag so bringen wird: die anstehenden Traktanden im Nationalrat, das neue Alkoholgesetz, die Änderung des Sanktionenrechts, das Rüstungsprogramm. Müller lebt im Wallis als Bauer, das heisst, er nennt sich noch so, es klingt so gut, so bodenständig. In Tat und Wahrheit stehen natürlich schon lange andere im Stall und auf dem Feld. Aber den Hof, den hat er immerhin noch. Die Politik, sie lässt ihm keine Zeit mehr, dem nachzugehen, was ihm sein Vater, Gott hab ihn selig, beigebracht hat. Der Beruf ist zum Hobby geworden, die Politik zum Beruf.
DIE POLITIK, SIE LÄSST
IHM KEINE ZEIT MEHR,
DEM NACHZUGEHEN,
WAS IHM SEIN VATER,
GOTT HAB IHN SELIG,
BEIGEBRACHT HAT.
DER BERUF IST ZUM
HOBBY GEWORDEN,
DIE POLITIK ZUM BERUF.
Um sieben Uhr morgens ist Müller, die schwer beladene Aktentasche in der Rechten, zu einem ersten Gespräch verabredet, im «Bellevue», The Leading Hotels of the World, ein befreundeter Bauernlobbyist wartet, man bespricht letzte Details für die Beratung des Alkoholgesetzes im Nationalrat, dem der Ständerat schon zugestimmt hat. Christdemokrat Müller ist Mitglied der vorberatenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben, der WAK, die Allianzen mit SVPlern und Grünen sind geschmiedet, die Reihen geschlossen, man wird es schon durchbringen – auch wenn diese Totalrevision gegen viele Werte verstösst, die Müller in seinen Wahlkampfreden hochhält, zum Beispiel den freien Markt. Ja, es ist schon ein Coup, den sie hier gleich landen werden, sie haben ihn gut getarnt, mit Jugendschutz, Verkaufsverbot für Alkohol nach 22 Uhr und Mindestpreisen.
Im Wesentlichen geht es Müller und den Seinen um die sogenannte Ausbeutebesteuerung, die im Rahmen des neuen Alkoholgesetzes eingeführt werden soll. Die Abgabe will die Schweizer Schnapsproduzenten gegenüber den ausländischen Importeuren bevorteilen: Ihre Spirituosen würden nur halb so hoch besteuert wie diejenigen der Konkurrenz ennet der Grenzen, die ihre hochprozentigen Wässerchen in der Schweiz verkaufen wollen. Für den Zürcher Rechtsprofessor René Matteotti, der im Auftrag der Eidgenössischen Alkoholverwaltung ein Gutachten dazu verfasst hat, ist der Fall klar: «Das verstösst gegen die WTO-Verträge, ist völkerrechtswidrig und willkürlich.» Und seine Kollegin in der Kommission, die grünliberale Nationalrätin Kathrin Bertschy, hat in einer Zeitung gesagt: «Das ist ein Buebetrickli der Bauern.» Ansonsten aber ist das Thema völlig unter dem Radar der Medien durchgeflogen. Gut so.
Nationalrat Müller ist einerlei, wenn sich da ein paar Bedenkenträger äussern, sollen die nur reden, ihre Stimme hat ja eh kein Gewicht. Es geht um Grösseres, um das Überleben eines Schweizer Wirtschaftszweigs, der schon arg dürr ist. Der Markt, nein, er regelt nicht alles, das hat ja wohl die Vergangenheit gezeigt, es ist zu schützen, was man schützen kann. Und das ist ihm gelungen. Es war nicht einfach, das muss man sagen. Es war ein seltener Glücksfall, denkt sich Müller beim Café Crème. Sowieso ist es ungeheuer schwierig geworden, Mehrheiten zu finden. Die Dinge sind halt nicht mehr so einfach, schwarz oder weiss, es gibt wechselnde Mehrheiten, wer etwas will, muss schon Mitstreiter gefunden haben, bevor ein Geschäft in eine Kommission geht. Und da es immer öfter immer schneller gehen muss, fehlt meistens die Zeit, sich überhaupt rechtzeitig eine Meinung zu bilden, geschweige denn Kompromisse zu finden. Denn dazu braucht es eine Vertrauensbasis. Leider, denkt sich Müller, ist das Misstrauen zur Konstanten geworden, seitdem das Land so polarisiert ist in Linke und Rechte, in SP und SVP. Die Parteilinie ist, gerade bei den Polparteien, zum obersten Gebot geworden.
Nationalrat Müller macht sich auf ins Parlament, Haupteingang,