Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust. Hans Peter Dreitzel
von 60.000 Euro liegt – bis dahin macht jeder Anstieg des Einkommens glücklicher, danach geht es langsam bergab mit den wohlstandsbedingten Glücksgefühlen – eine überraschend niedrige Grenze, wenn man den Kampf um Boni und ähnliche Perversitäten in der Finanzwirtschaft beobachtet. Reichtum als solcher ist in sich kein als sinnvoll erlebbares Ziel. Das zeigt auch die sogenannte Reichtum-Studie (SPIEGEL-ONLINE, Wirtschaft, 7.9.2010). Die beste Quelle, wenn man fragt, was die empirische Wissenschaft bisher über die Faktoren herausgefunden hat, die ein langes Leben gelingen lassen, ist aber die sogenannte »Grant-Studie«. In dieser Langzeituntersuchung wurden zwei Kohorten von privilegierten und unterprivilegierten Männern 75 (!) Jahre lang in zweijährigen Abständen auf die Glücks- und Unglücksmomente in ihrem Leben hin untersucht. In einem Interview sagt der langjährige Leiter dieser Studie (G. E. Vaillant, 2013): »Reich zu sein ist kein Garant für Glück. Geld kann zweifellos Freude bereiten, doch an Reichtum gewöhnt man sich schnell. Dann wird er unbedeutend.«
Dass körperliche Schönheit ein sehr zwiespältiges Geschenk der Natur ist, belegen unzählige leidvolle und unglückliche Geschichten von schönen Menschen, die mit der Last der übergroßen Aufmerksamkeit, die ihnen oft schon in der Kindheit zuteil geworden ist, nicht umgehen konnten. Überraschend dagegen scheint die Aussage; dass auch Gesundheit für unser Lebensglück nur eine geringe Rolle spielen soll. Ich erkläre das vor allem damit, dass wir den gesunden Zustand unseres Körpers als den normalen erleben – der nicht vorhandene Schmerz wird nicht gespürt und leicht vergessen. Der gesunde Körper steht nur bei mehr oder weniger starken Lustgefühlen im Vordergrund unseres Erlebens – oder wenn wir ihm in erhöhtem Gewahrsein, etwa bei einer Meditation, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Im Übrigen steht dieses Ergebnis auch im Gegensatz zu dem hohen Stellenwert, die die Sorge um die Gesundheit in vielen Studien erreicht.
Darüber hinaus gibt es zwei eindeutige Ergebnisse der empirischen Glückforschung, die beide den in der Philosophie des guten Lebens aufgespannten Bogen zwischen subjektiv-individuellen Faktoren und objektiv an Werten orientierten Faktoren bestätigen: Offensichtlich ist die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben, ihre persönliche Sichtweise, wichtiger als die objektiven Umstände ihres Lebens. Das bestätigt auch die therapeutische Erfahrung, dass Veränderung, Linderung des Leidens also, oft schon durch einen bloßen Perspektivwechsel erreicht werden kann – entsprechend dem nach dem amerikanischen Soziologen William Issac Thomas benannten Thomas-Theorem: »Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie auch real in ihren Wirkungen«. Das andere wichtige Ergebnis der Glücksforschung ist die große Bedeutung, die die eigenen Lebensziele für die Erfahrung von Sinn und Glück im eigenen Leben besitzen.
■ Beides aber reicht noch nicht aus, um allein schon das Gefühl eines glücklichen Lebens zu vermitteln. Zweierlei muss noch hinzukommen: Zum einen der Blick auf die Gesamtheit des Lebens. Akzidentelle Glücksmomente versinken schnell in eine vergangenheits- und zukunftslose Gegenwart. Werden sie auf Dauer gesucht, so kommt es zu einer bloßen Aneinanderreihung solcher Momente, die früher oder später als schal erlebt wird. Ein hedonistisches Leben macht nicht glücklich. Gunter Sachs, dessen Lebensstil stets als Inbegriff des Hedonismus galt, war nichtsdestoweniger ständig mit Tätigkeiten als Fotograf, Astrologe, Kunstsammler und Finanzjongleur u. a. beschäftigt, um seinem Leben einen Sinn zu verleihen, und schied aus dem Leben, als ihm im Alter die Projekte ausgingen (vgl. SPIEGEL Nr. 15, 8.4.2013). Mit zunehmender Reife leben wir mehr und mehr auf ein als Ganzes erfahrbares Leben hin, das bei allem Auf und Ab des Erfolges und des Scheiterns insgesamt auf ein Gelingen angelegt ist. Darauf verweist ja eben der von manchen alternativ zum Begriff des guten Lebens verwendete Begriff eines gelingenden Lebens.
Zum anderen muss eine Erfahrung von Sinnhaftigkeit hinzukommen. Nur wird das, was wir als Sinn erleben, selten als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens formulierbar sein. Diese Frage, die manchmal auch dem Therapeuten gestellt wird, ist letztlich nicht zu beantworten (und darf von diesem auch versuchsweise nicht beantwortet werden!). Dennoch gibt es ein klares Gefühl von Sinnhaftigkeit bestimmter Lebensvollzüge und zuweilen eben auch des ganzen Lebens, das sich einstellt, wenn es gelingt, das eigene Leben auf das Erreichen von Zielen auszurichten, die jenseits der eigenen Person liegen. Wenn sich dieses Gefühl paart mit dem Glücksgefühl der Befriedung der eigenen Bedürfnisse, dann kann wohl mit Recht von einem guten Leben gesprochen werden.
Der Philosoph Martin Seel hat als Kriterium für ein gutes, also befriedigtes, sinnhaft orientiertes, gelingendes Leben diese Formel vorgeschlagen: »Das gute Leben ist eines, das sich im Modus freier Weltbegegnung vollzieht.« (M. Seel, 1998, S. 280). Das könnte man auch als Fazit des Menschenbildes der Gestalttherapie so sagen. »Frei« hieße dabei sowohl selbstbestimmt als auch Spielräume für diese Selbstbestimmung gewährend, die natürlich häufig genug durch äußere Umstände oder innere Behinderungen eingeschränkt sind. »Weltbegegnung« kann man gestalttherapeutisch verstehen als den Kontakt zwischen Mensch und Umwelt, das heißt als den »sättigenden Prozess«, durch den sich jeder nährende, für das menschliche Wachstum notwendige Austauschprozess mit der Welt vollzieht. Und Begegnung ist dann in dieser Perspektive die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, zum »vollen Kontakt« zu gelangen, diesem vorübergehenden, aber sich potenziell in jedem Kontaktvorgang wiederholenden Zustand der Integration von Subjekt und Objekt im Verschmelzen von menschlichem Organismus und Umwelt am jeweiligen Punkt ihrer Berührung zu einer Einheit des Erlebens (vgl. S. 64/65).
■ Wir müssen nur noch das Kriterium des Gewahrseins hinzufügen, diese nur dem Menschen eigene Fähigkeit eines kognitiven Zustands des Bewusstseins der Leibhaftigkeit unserer Erfahrung von Welt, mit dem wir uns auf die »Kontaktgrenze«, den Berührungspunkt zwischen Subjekt und Objekt, konzentrieren können. Diesen Zustand werde ich im weiteren Verlauf meiner Überlegungen auch Bewusstheit oder reflexive Sinnlichkeit nennen. Das Gewahrsein ist in der Gestalttherapie, die von Friedrich und Lore Perls ursprünglich Konzentrationstherapie genannt wurde, das heilende Agens, das, was »gesund« macht. Dazu gehört auch,
dass, wenn diese »Weltbegegnung« mit erhöhtem Gewahrsein geschieht, wie von selbst ein eigentümliches Verantwortungsgefühl für die jeweilige Umwelt entsteht, eine Sorge für das Objekt unserer Begegnung, also insbesondere für unsere Mitmenschen, aus der längerfristig die Sinnhaftigkeit und Zielorientierung eines Lebens erwächst. So gesehen enthält das Menschenbild der Gestalttherapie in der Tat das Projekt eines guten Lebens, wie es eine jahrtausendealte philosophische Tradition vor und jenseits des Christentums im Abendland entwickelt hat.
Wie dieses Projekt im Einzelnen aussieht, soll nun im ersten Teil dieses Buches anhand ausgewählter Stichworte erläutert werden.
Teil I. Das Projekt eines guten Lebens
Ich glaube nicht genug an die Vernunft,
um an ein System zu glauben.
Was mich interessiert ist,
wie man leben soll.
Albert Camus
1. Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen
To expect the unexpected shows
a thoroughly modern intellect.
Oscar Wilde
Dass unser Leben ein Abenteuer ist, soll zunächst einfach heißen: unser Leben ist ein Ereignis, das wir nicht geplant haben und das von einer Serie von schicksalhaften Ereignissen bestimmt wird, die immer wieder alle Lebensplanung durcheinander werfen. Die Zukunft bleibt stets ungewiss, sodass alle Sicherheit höchstens Wahrscheinlichkeitswert besitzt. »Der Mensch denkt und Gott lenkt« ist ein altes Sprichwort, das diese Erfahrung auf den Punkt bringt. In ihm steckt freilich noch der Hinweis auf ein vor-modernes Gottvertrauen, das Heil und Trost zu bringen versprach, zumindest aber etwas Halt inmitten der Lebensstürme bot. Diesem Versprechen noch zu glauben, wurde in der Moderne zunehmend schwieriger. Der Mensch der frühen Neuzeit wird immer mehr von Glaubenszweifeln gequält, die in den Reformationen des 16. Jahrhunderts ihren theologischen und sozialen Ausdruck fanden. Zugleich beginnt mit der Renaissance und dem Humanismus eine Rückbesinnung auf die dem Menschen eigenen Potenziale, die ungeheure Kräfte freisetzt: Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert