Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust. Hans Peter Dreitzel

Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust - Hans Peter Dreitzel


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geprägt von abenteuerlichen Reisen, die die politische und soziale Welt tiefgreifend verändert haben. Während aber in der Antike und im Mittelalter die Abenteuer des Lebens zumeist passiv als gottgewolltes oder teuflisch inszeniertes Schicksal erlitten wurden, entwickelt sich in der Neuzeit immer häufiger auch eine Haltung, in der das Abenteuer positiv gewertet und oft sogar ersehnt wird als notwendiger Bestandteil einer Suche nach individuellem Glück. Das ist bereits der Fall bei Parzivals Suche nach dem Gral, während die Reisen des Odysseus noch schiere Irrfahrten sind, die die Götter dem Helden schicksalhaft auferlegen.

      Ähnliches gilt auch für die Abenteuer des Geistes in den Wissenschaften, die unser Weltbild wie auch unser Bild vom Menschen selbst vollständig verwandelt haben; mit Galileo und Kepler verlor die Erde ihren Status als Mittelpunkt des Universums; mit Darwin verlor der Mensch seine Rolle als Krone der Schöpfung; mit Freud verlor der Mensch seine vollständige Kontrolle über sich selbst. Seitdem haben die Atomphysik und die Quantenphysik unsere Vorstellung von der Substanzhaftigkeit der Erde aufgelöst, und jetzt stellen die Neurowissenschaften sogar unsere Willensfreiheit infrage und halten unser Ich-Bewusstsein für eine Illusion.

      ■ Nach dem inneren Halt des Gottvertrauens in einem theologischen Weltbild geht auch der Halt an dem äußeren Bild der Welt, wie es die klassischen Naturwissenschaften entworfen hatten, nun immer mehr verloren. Die These, dass das Leben ein Abenteuer sei, bekommt jetzt einen neuen Sinn: Es geht nicht mehr nur um unvorhersehbare Ereignisse und Bedrohungen, die es zu bewältigen gilt, und um das Bestehen von überraschenden Herausforderungen, sondern das Leben als ganzes erscheint von vornherein als ein Abenteuer, so als wären wir hineingeworfen in ein Leben, für das uns die Betriebsanleitung fehlt. Lange bevor der Existenzialismus des 20. Jahrhunderts von der »Geworfenheit« des Menschen in die Existenz sprach, hat der berühmte Mathematiker und Theologe des 17. Jahrhunderts Blaise Pascal diese verzweifelte Lage des modernen Menschen so beschrieben:

      »Weder weiß ich, wer mich in die Welt setzte, noch was die Welt ist, noch was ich selbst bin. In einer furchtbaren Ungewissheit was meine Sinne sind, noch was meine Seele ist, und der Teil meines Ichs sogar, der in mir denkt, was ich sage, der über alles und über mich nachdenkt, kennt sich selbst nicht besser als das Übrige. Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und ich finde mich an einer Ecke dieses weiten Weltraums gefesselt, ohne dass ich wüsste, weshalb ich hier und nicht etwa dort bin, noch weshalb ich die wenige Zeit, die mir zum Leben gegeben ist, jetzt erhielt und zu keinem anderen Zeitpunkt der Ewigkeit, die vor mir war und nach mir sein wird. Ringsum sehe ich nichts als Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom, wie einen Schatten umschließen, der nur einen Augenblick dauert ohne Wiederkehr. (P. Blaise 1956, 90).

      Das scheint mir noch immer, und jetzt am Ende der Neuzeit erst recht, eine realistische Beschreibung unserer Situation. Für Pascal ergab sich die Erlösung aus dieser Situation nur aus der tragischen Religiosität eines credo quia absurdum est (Ich glaube, weil es absurd ist.). Obgleich ein solcher Glaube fast schon existenzialistisch anmutet, bleibt darin doch viel Platz für kirchlich vorgegebene Ordnungen und Wertsetzungen. Pascal jedenfalls führte ein so asketisches Leben, dass er seine ohnehin schwache Gesundheit damit vollends ruinierte. Diese Askese aber ist eine Negation des Körpers und kann deshalb niemals Bestandteil einer humanistischen Idee vom »guten Leben« sein.

      Statt auf den Glauben setzt die Gestalttherapie dagegen immer auf die Erfahrung. Sie ermutigt den Menschen, das Abenteuer seines Lebens nicht bloß passiv zu erleiden, sondern es aktiv anzupacken und uns mit all unseren Sinnen in das Ungewisse zu stürzen und das, was wir dabei entdecken, mit kreativer Lust zu gestalten. Dabei setzt sie auf das Potenzial des Lebens, sich in schöpferischer Anpassung mit denjenigen Elementen der Umwelt zu identifizieren, die es zu seinem Wachstum braucht, und sich von denjenigen zu entfernen, die diesem Austauschprozess im Wege stehen.

      ■ Unsere erste und wohl auch letzte Erfahrung ist, dass wir am Leben sind. Deshalb steht in der Gestalttherapie das Bewusstsein zu atmen bei den sehr bedrohlichen psychosomatischen Störungen so sehr im Mittelpunkt. Vergegenwärtigen wir uns also: was wissen wir heute über die Frage: Was ist Leben? (Das Folgende stützt sich auf Formulierungen von F. Cramer, 1997). Leben ist Materie, die sich selbst reproduziert. Leben vermehrt sich so lange, wie die äußeren Bedingungen, vornehmlich die Nahrungsquellen, ausreichend und förderlich sind. Da die Bedingungen niemals nur günstig sind, stößt Leben immer auf Grenzen: »Das Lebendige explodiert und droht sich selbst zu ersticken.« (49) Leben muss sich an die sich ständig verändernde Umwelt anpassen. Deshalb entwickelt sich Leben, es evolviert durch eine Folge von erfolgreichen Mutationen, die die Anpassung an neue Umweltbedingungen gewährleisten. Leben ist bestimmt durch das Gesetz der Entropie, nach dem alle dynamischen Prozesse auf die Dauer einen Energieverlust erleiden; das heißt, alles Leben verschwindet wieder, stirbt ab. Die meisten Gattungen von Lebewesen, die die Natur hervorgebraucht hat, sind bereits ausgestorben; das gilt auch für die verschiedenen Menschengattungen vor dem homo sapiens, also uns.

      Das individuelle Leben wird zeitlich strukturiert durch den Zyklus von Geburt, Wachstum, Siechtum und Tod. Schon rein biologisch ist also das Leben ein Abenteuer. Es ist eine »Bergbesteigung unter hohem Aufwand von Energie und Können mit einer anschließenden Gratwanderung … Mit Vorsicht, Intelligenz und bergsteigerischem Können (kann man) auf einem schmalen, unter Umständen gefährlichen Grat entlang wandern« – solange die aus der Umwelt bezogene Energie reicht (52). Leben ist also nicht im Gleichgewicht, es ist energetisch äußerst kostspielig und daher physikalisch unwahrscheinlich.

      So einleuchtend und überzeugend die Klage von Pascal auch heute noch erscheint, so einseitig ist doch ihre Perspektive. Denn sie bezieht sich allein auf unsere unbestreitbare Unwissenheit. Er sagte nichts über die Kräfte und Begabungen, mit denen wir Menschen bereits auf die Welt kommen. Menschliches Leben verfügt über reiche Ressourcen der Orientierung in einer unbekannten Umwelt, welche Lebens- und Überlebenschancen enthält, die angesichts unserer Ignoranz höchst erstaunlich sind. Damit dieser Schatz zum Tragen kommen kann, muss allerdings das Überleben in den ersten Jahren nach der Geburt in einer sozialen Umgebung gewährleistet sein, die zugleich sicher und stimulierend ist. Menschen sind gemessen an vergleichbaren Säugetieren Frühgeburten, weil ihr mächtiger, das große Gehirn schützender Schädel eine spätere Geburt, für die der Geburtskanal zu eng wäre, unmöglich macht. Sie verbringen das sogenannte »extra-uterine Frühjahr« (A. Portmann, 1991) in vollkommener Abhängigkeit von den Eltern und nahen Bezugspersonen, was sie zugleich offen macht für ungewöhnlich frühe soziale Einflüsse – Anregungen wie Behinderungen.

      Die Natur beziehungsweise die Evolution hat uns ausgestattet mit dem Neocortex, einer Gehirnregion, die uns rationales Denken, Planen und Abwägen ermöglicht. Der Neokortex ergänzt unseren Sinnesapparat, der zwar bei manchen Tieren im Einzelnen schärfer ausgebildet ist, aber ohne diese von unserem Gehirn ermöglichte Einheit der Sinne (H. Plessner, 1923) zu erreichen, aus der unsere hoch komplexe Weltsicht erwächst. Wir verfügen über ein evolutionär altes, aber zu erstaunlicher Differenzierung und Ausprägung fähiges emotionales Sensorium, das unsere kognitiven Kräfte motivational unterstützt. Und wir besitzen die Fähigkeit der Sprache, auch sie ist ein Wunder, das die Forschung bisher nicht wirklich entschlüsseln konnte. Diese Potenziale zusammengenommen machen die evolutionär neueste Ausgabe des Menschen, den homo sapiens, zu einem Lebewesen, dessen größte Bedrohung nunmehr die Zerstörung der ihn tragenden Umwelt durch seine eigene Überlebenskompetenz ist.

      ■ Das ist ein ganz anderes Bild des Menschen als das von Pascal entworfene, ohne dass dieses darum falsch wäre. Manche würden vielleicht an dieser Stelle sagen, dass es besser gewesen wäre, erst einmal die von Pascal aufgezählten Grundfragen zu klären, bevor sich die Menschheit in das Abenteuer einer Wissenschaft stürzte, in deren Folge sie ihren inneren Halt verloren und zugleich ihre eigene Umwelt vergiftet hat. Aber das wäre ein kurzsichtiger Blick: Es ist derselbe Prozess der wissenschaftlich-mathematischen Suche nach der Antwort auf diese Fragen, den Pascal und andere Denker des 16. und 17. Jahrhunderts angestoßen haben, der zu den Problemen unserer Gegenwart geführt hat. Nur haben sich die Prioritäten etwas verschoben: langsam – zu langsam! – schiebt sich die Umweltproblematik immer mehr in den Vordergrund, einfach weil es hier um unser aller Überleben geht.

      Auf andere und neue Weise wird gegenwärtig deutlich, wie sehr das Leben ein Abenteuer ist: Indem wir


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