Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 17. Monika Waldis
die aus einem selbst entwickelten Theorierahmen abgeleitet wurden, im Vergleich zur wiederholten Prüfung einer etablierten Theorie, in geringerem Maße zum theoretischen Erkenntnisgewinn bei, da durch die jeweils einmalige Prüfung immer wieder neu konstruierter Modelle es an ausreichenden Falsifikationsversuchen fehlt, um den Bewährungsgrad einer Theorie bewerten zu können (vgl. Döring & Bortz, 2016, 57). Als genuin geschichtsdidaktische Theorien können bisher die Konstrukte »Geschichtsbewusstsein«, Modelle historischer Kompetenz, Rüsens Sinnbildungsmuster oder im angloamerikanischen Raum das Modell des historical reasoning gelten, obschon zu den ersten beiden mehrere und teils widersprechende Definitionen vorliegen. Wird nach dem Stand von Theorie und empirischer Absicherung gefragt, so kommt hier häufig eine dritte – unseres Erachtens fachdidaktikeigene – Komponente ins Spiel: der Bekanntheitsgrad einer Theorie in der (Unterrichts-)Praxis bzw. deren (normative) Umsetzung in der Form von Lernzielen und Methoden. Häufig sind dort, wo Theorien eingeführt sind und ein gezieltes Training in Richtung der zu erwartenden Denk- und Handlungsweisen stattfinden konnte, Falsifikationen weniger häufig anzutreffen. So beschreibt beispielsweise Schreiber (2016, 133 f.) die erfolgreiche Einführung des theoretisch erarbeiteten Kompetenzansatzes in Praxisformate wie Lehr- und Lernmittel, Unterrichtsprojekte und museumspädagogische Maßnahmen, wobei sie und ihr Team bei der empirischen Überprüfung der Wirksamkeit der theoriefundierten Maßnahmen Kompetenzentwicklungen nicht nur in Bezug auf stärker subjektbezogene Kompetenzbereiche (historische Frage- und Orientierungskompetenz), sondern insbesondere auch in Bezug auf unterschiedliche Dimensionen der Sachkompetenz nachweisen konnten. Die Hypothese, dass kompetenzorientierte Ansätze des Lehrens bei Individuen Kompetenzentwicklung anzuregen vermögen, ist damit vorläufig bestätigt. Allerdings ist der Gültigkeitsbereich dieses empirischen Datums vorerst noch als eingeschränkt zu betrachten, denn in den Studien, die Schreiber anführt, wurde die Durchführung durch Praxis- oder Theorieexperten geleitet, da Lehrpersonen und Museumspädagoginnen und -pädagogen eine zu große Unsicherheit im Umgang mit ungeplanten Situationen im Lehr-Lern-Prozess verspürten bzw. ihnen solche Unsicherheit attestiert wurde. Ganz ähnlich gingen Stoel, van Drie und van Boxtel (2017) in ihrer – im renommierten »Journal of Educational Psychology« veröffentlichten – Studie vor, in der sie die Wirksamkeit expliziter Lehrstrategien wie das Kennenlernen von und den Umgang mit abstrakten Begriffen (z. B. Nationalismus, Imperialismus), die Erarbeitung vielfältiger Ursachen und das Konstruieren kausaler Erklärungen auf die Fähigkeit von Gymnasialschülerinnen und -schülern (11. Klasse), in Geschichte kausal zu argumentieren, nachweisen konnten. Auch in dieser experimentellen Studie wurde der Unterricht von zwei erfahrenen und forschungsaffinen Geschichtslehrpersonen durchgeführt, wobei diese viel Zeit in die Unterrichtsplanung investierten. Beide Beispiele zeigen sehr schön das Dilemma der fachdidaktischen Forschung auf, die mit der Situation konfrontiert ist, als Gestaltungswissenschaft Innovationen im Bildungsbereich zu implementieren und gleichzeitig deren Wirksamkeit empirisch zu überprüfen. Streng genommen, können sowohl Schreiber und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch Stoel und Mitautorinnen mit der gewählten Vorgehensweise nur die Wirksamkeit für einen bestimmten Fall, den kompetenzförderlichen Unterricht durch forschungsaffine Geschichtsdidaktik-Expertinnen und -Experten, als »nicht falsifiziert« ausweisen. Bei der Implementation des Kompetenzansatzes in die Schulpraxis könnte es allerdings zu weiteren, teils unvorhergesehenen Komplikationen kommen, die die Umsetzbarkeit der Theorie in der Unterrichtspraxis infrage stellen.
Als vielversprechender Ansatz im Umgang mit dieser Situation hat sich in jüngerer Zeit in verschiedenen Fachdidaktiken der Ansatz des »Design-based-Research« (DBR) etabliert (Hußmann, Thiele, Hinz, Prediger & Ralle, 2013; Reinmann, 2005). Ziel dieses Ansatzes ist es, dass Forschende in Zusammenarbeit mit Praktikerinnen und Praktikern in lokalen Kontexten Lernumgebungen unter der Nutzung von Lerntheorien und didaktischen Theorien gestalten. Deren Wirksamkeit wird im konkreten Kontext geprüft, und die Lernumgebungen werden davon ausgehend weiterentwickelt. Die grundlegenden Merkmale und Prinzipien des DBR-Ansatzes sind zum einen, dass der Entwicklungsprozess der Innovation zum Forschungsgegenstand wird und im praktischen Kontext unter der Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Praktikerinnen und Praktikern1 von Beginn an bearbeitet wird, und zum anderen das zyklische, iterative Vorgehen der Untersuchung. Dabei wird, ausgehend von einer Frage zu Lernprozessen, die systematische Gestaltung von Lernaufgaben bis hin zu ganzen Lernumgebungen vorgenommen. Es folgt die Beobachtung von Lernprozessen und die Überprüfung von Lernergebnissen und, auf diesen empirischen Ergebnissen aufbauend, das Redesign von Aufgaben bis hin zu größeren Lehreinheiten der Designlösung mit dem Ziel der Lösung des zu Beginn der Innovation umrissenen Bildungsproblems. So identifizierten beispielsweise Klees und Tillmann (2015) in ihrer Studie zum Einsatz von externen Schülerlaboren im Biologieunterricht die vorgängige Vorbereitung im Unterricht als zentral, gleichzeitig stellte sich die Frage, wie die Anbindung an den Unterricht gewährleistet werden kann. In der Folge nutzten sie technische und gestalterische Potenziale digitaler Medien, um Informationen zum Lernort und Lernmaterialien inklusive Animationen vor dem Laborbesuch zur Verfügung zu stellen. Die fachliche Vorbereitung wurde in drei Zyklen zunächst mittels Lehrpersonenbefragung und schließlich mittels Lehrpersonen- und Schülerinnen- und Schülerbefragungen auf deren Praxistauglichkeit hin überprüft, wobei auch Entwicklungswünsche der Lehrkräfte umgesetzt werden konnten. Im vierten Zyklus wurde die Wirkung von Vorbereitung und Laborbesuch auf den Wissenserwerb und das Flow-Erleben der beteiligten Schülerinnen und Schüler getestet. Die Leistung solcher Studien im Modus des Design-based-Research-Ansatzes ist darin zu sehen, dass von »lokalen Theorien« des Lehrens und Lernens ausgegangen wird und kontextuelle Gegebenheiten im Forschungsprozess Beachtung finden. In einem experimentellen Setting werden zunächst lokal Hypothesen getestet, wobei die Realität nach einem theoriegestützten Plan manipuliert wird. Im weiteren Verlauf des Beobachtens, Evaluierens und Redesigns findet eine Verschränkung von Verstehen (Beschreibung/descriptives) und Anpassung der Lehr-Lern-Situation statt, die einer weiteren Überprüfung unterzogen wird. Idealerweise resultieren mittels dieses zyklischen Verfahrens Erkenntnisse auf drei unterschiedlichen Ebenen: erstens kontextualisierte Theorien zum Lehren und Lernen eines spezifischen Gegenstands, zweitens vertieftes Wissen zum Designprozess selbst (z. B. Aufgabenentwicklung und Adaption auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Lernenden) und schließlich drittens Verbesserung und Innovation von konkreten Lernumgebungen und Lernaufgaben für die Unterrichtspraxis (Reinmann, 2005, 61 f.). In der geschichtsdidaktischen Forschung hat der DBR-Ansatz bisher noch kaum Fuß gefasst. Es ist abzuwarten, ob die in ihn gesetzten Erwartungen eingelöst werden können. Sicherlich nicht trivial sind die Herausforderungen an theoretische Klarheit und Stringenz sowie die Anforderungen an methodische Herangehensweisen und Forschungsinstrumente mit dem Ziel, kontextuell geprägten Phänomenen im Forschungsprozess gerecht zu werden. Nicht zuletzt werden Fördergelder darüber entscheiden, ob sich der Ansatz in der fachdidaktischen Forschung etablieren wird.
3Der Tagungsband und seine Beiträge
Mit dem vorliegenden Band wird zum sechsten Mal in Folge die Tagung »geschichtsdidaktik empirisch« dokumentiert. Die Tagung hat am 7. und 8. September 2017 traditionsgemäß in den Räumlichkeiten der alten Universität Basel stattgefunden. Sie startete mit einigen Impulsen zum Theorie-Empirie-Verhältnis der Erstautorin dieser Einleitung, aus denen die hier dargelegten Überlegungen hervorgegangen sind. Es folgte die Analyse des Theorie-Empirie-Verhältnisses in der Keynote von Michele Barricelli, der in launiger Art und Weise den Sprachgebrauch der empirischen Geschichtsdidaktikforschung reflektierte. Mit der Niederschrift seines Referats dürfte er zukünftig zur verstärkten Reflexion der Fachsprache unter den empirisch Forschenden anregen. Carla van Boxtel präsentierte anderntags in ihrer Keynote die beeindruckende Verzahnung und enge Verschränkung von Theorie, Empirie und Praxis zum historical reasoning in den Niederlanden.
Eine erste Gruppe der hier vertretenen Beiträge widmete sich – wie schon in der Vorgängertagung – den (angehenden) Geschichtslehrpersonen. Dabei wurden verschiedene Kompetenzaspekte sowie Einstellungen und Überzeugungen in den Blick genommen. Die Studien basierten einerseits auf dem Modell der professionellen Kompetenz von Lehrpersonen (Kunter et al., 2011) und zogen andererseits weitere theoretische Grundlagen heran.
Tobias Langguth, Waltraud Schreiber und Michael Werner erkundeten – ausgehend von Informationen zu Nutzungsdaten zum digitalen und multimodalen Schulbuch »mBook Belgien« – in Lehrerinterviews den Umgang mit und die