Identität und Profil kirchlicher Einrichtungen im Licht europäischer Rechtsprechung. Группа авторов

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Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage

      3.1.1.1 In Bezug auf die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften

      Nach der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts ist im Individualarbeitsrecht im Wege einer zweistufigen Prüfung vorzugehen.52 Auf der ersten Stufe ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften maßgeblich und nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Das Bundesverfassungsgericht formuliert den Maßstab wie folgt:

       „Ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt, müssen die staatlichen Gerichte auf einer ersten Prüfungsstufe einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der Kirche unterziehen. Dabei dürfen sie die Eigenart des kirchlichen Dienstes - das kirchliche Proprium - nicht außer Acht lassen.“53

      In Bezug auf die gerichtliche Überprüfbarkeit hält das Bundesverfassungsgericht für die erste Prüfungsstufe sehr deutlich fest, dass die staatlichen Gerichte sich „[ü]ber die entsprechenden Vorgaben der verfassten Kirche […] nicht hinwegsetzen [dürfen].“54 Auf der zweiten Prüfungsstufe erfolgt dann eine Abwägung mit etwaigen entgegenstehenden Rechtspositionen kirchlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Wege einer „offenen Gesamtabwägung“.55 Die entscheidende Frage ist, wie sich die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte zweistufige Prüfung und die vom EuGH geforderte einzelfallbezogene Betrachtung anhand der Art der (konkreten) Tätigkeit und den (konkreten) Umständen ihrer Ausübung zueinander verhalten.

      In der Literatur wird insoweit kritisiert, dass der EuGH sich über diese zweistufige Prüfung hinweggesetzt und die vom Bundesverfassungsgericht betonte Beschränkung auf eine Plausibilitätsprüfung auf der ersten Stufe verworfen habe.56 Weder der Generalanwalt noch der EuGH hätten die Systematik der Prüfung verstanden. Diese Kritik geht insofern fehl, als die verfassungsrechtliche Dogmatik nicht Gegenstand des Rechtsstreits war und der EuGH weder formal noch implizit über die deutsche Rechtslage entschieden hat. Wie immer in Vorabentscheidungsverfahren beschränkt sich der EuGH auch im vorliegenden Verfahren auf die Auslegung des Unionsrechts und die Formulierung von Vorgaben, die sich aus diesem ergeben.57

      Nun ließe sich dem gerade formulierten Einwand entgegnen, er argumentiere rein formal auf der Basis der prozessualen Situation. In der Sache bestehe aber nun einmal eine Rechtsprechungsdivergenz zwischen der bloßen Plausibilitätsprüfung durch das Bundesverfassungsgericht und der vom EuGH geforderten Abwägung anhand der konkreten Umstände, die durch ein staatliches Gericht kontrolliert werden müsse.58 Diesem Hinweis auf die Unterschiede zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die erste Prüfungsstufe ist zuzustimmen. Die Unterschiede verlieren aber an Gewicht, wenn man die zweite Prüfungsstufe mit in den Blick nimmt. Hier sieht auch das Bundesverfassungsgericht eine Gesamtabwägung durch die staatlichen Gerichte vor. Die entscheidende Frage ist deshalb diejenige nach der Kontrolldichte auf der zweiten Stufe.59

      3.1.1.2 Zum Umgang mit § 9 Abs. 1 AGG

      § 9 Abs. 1 AGG enthält eine im Tatbestand weit formulierte Ausnahme, die eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften oder in ihnen zugeordneten Einrichtungen zulässt, wenn „eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.“

      Mit dem allgemeinen Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht geht § 9 Abs. 1 AGG über den Wortlaut der Richtlinie und dessen gerade beschriebene Auslegung durch den EuGH hinaus. Das Bundesarbeitsgericht stand deshalb vor der Frage, wie es mit diesem Unterschied in der Reichweite umgehen soll. In Betracht kamen eine richtlinienkonforme (einschränkende) Auslegung oder – falls diese nicht möglich sein sollte – die Nichtanwendung der Vorschrift.60 Das BAG geht in seiner Entscheidung dieser Frage mit Teilen der Literatur davon aus, dass § 9 Abs. 1 AGG einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich sei und hält die Vorschrift folgerichtig wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts für nicht anwendbar.61 Das BAG begründet dieses Ergebnis mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die einer anderen Auslegung entgegenstünden.62 Angesichts des Umstands, dass in der deutschen Literatur durchaus schon vor der Entscheidung des EuGH im Fall Egenberger einer enge Auslegung von § 9 Abs. 1 AGG vertreten wurde, vermag diese strenge Orientierung an Wortlaut und Systematik allerdings nicht ganz zu überzeugen. Eine einschränkende Auslegung der Wirkungen von § 9 Abs. 1 AGG im Hinblick auf die Vorgaben der Richtlinie und des europäischen Antidiskriminierungsrechts wäre deshalb durchaus in Betracht gekommen.63

      3.2 Gerichtliche Überprüfbarkeit

      Die Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist so eng mit dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften verknüpft, dass man von einer Dilemmasituation sprechen kann: Aus Gründen der Neutralität darf der Staat nicht darüber befinden, welche religiösen Anforderungen eine Religionsgemeinschaft an ihre Mitglieder stellt. Das wird besonders deutlich bei verhaltensbezogenen Anforderungen, wie etwa Bekleidungsvorschriften, Speiseregeln oder auch Vorgaben an eine gute Lebensführung im persönlichen Bereich, zu denen man die Beachtung einer bestehenden Ehe und auch ein Scheidungsverbot zählen kann. Über das Bestehen und den Umfang derartiger, oft unter dem Stichwort der „Loyalitätsobliegenheiten“ zusammengefasster Anforderungen kann nur die betreffende Religionsgemeinschaft selbst entscheiden. Dieser Hintergrund erklärt die auf Plausibilität beschränkte Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf der von ihm gesondert vorgenommenen ersten Prüfungsstufe.64 Gleichzeitig – und daraus resultiert das Dilemma – lässt sich eine Bewertung derartiger Anforderung durch staatliche Gerichte zumindest dann nicht vermeiden, wenn die Anforderungen nicht nur die private Lebensführung als solche betreffen, sondern zur Voraussetzung für die Einstellung gemacht werden. Das gleiche Problem stellt sich auch in Bezug auf die Mitgliedschaft als Einstellungskriterium.

      Die Zweistufigkeitsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts schichtet die gerade beschriebenen Probleme teilweise ab, indem sie die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts auf der ersten Stufe besonders herausstreicht. Gleichzeitig kaschiert sie aber in gewisser Weise auch das Dilemma, weil nicht mehr hinreichend deutlich wird, dass auf der zweiten Stufe auch nach der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts eine Gewichtung der jeweiligen Interessen erforderlich wird, zu der dann auch eine Bewertung der von der Religionsgemeinschaft im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts geltend gemachten Positionen gehört. Es ist demnach auch unter der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts keineswegs so, dass keine Kontrolle der im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts geltend gemachten Positionen durch die staatlichen Gerichte stattfände.

      An dieser Stelle ist im Verfahren Egenberger vor dem EuGH offenbar durch die Begründung des Vorlagebeschlusses durch das BAG ein Missverständnis entstanden. Man kann die Begründung des BAG in seinem Vorlagebeschluss so verstehen, als ob die zweite Prüfungsstufe mit der intensiveren gerichtlichen Kontrolle nur in Kündigungsschutzprozessen zur Anwendung komme.65 Der Versuch einer Richtigstellung im Verfahren vor dem EuGH ist gescheitert, weil Generalanwalt und Gerichtshof sich – nachvollziehbar – auf den Standpunkt gestellt haben, der EuGH müsse seiner Entscheidung die Darstellung der Rechtslage durch das vorlegende Gericht zugrunde legen, weil er nicht selbst über die „richtige“ Darstellung des mitgliedstaatlichen Rechts entscheiden könne.66 Im Verfahren IR, bei dem es sich um einen Kündigungsschutzprozess handelte, spielte die Frage von vorneherein keine Rolle.67

      Die missverständliche Darstellung der Rechtslage in Deutschland ist sicherlich unglücklich. Sie dürfte aber letztlich weder für den Verfahrensausgang vor dem EuGH noch für die weitere Praxis entscheidend sein. Das gilt schon deshalb, weil der EuGH eben nicht über die deutsche Rechtslage


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