Pechwinkel. Martin Arz
und der Pathologin hinzugetreten. »Der Täter hat zwar ein paar Backsteine zum Beschweren der Leiche mit in das Bündel gewickelt, aber bei der starken Strömung … Er wird die Leiche irgendwo da draußen in den Bach geworfen haben.« Sie deutete unbestimmt in Richtung Ausgang.
»Nein«, sagte Pfeffer leise.
»Wie nein?«
»Nein, er hat sie nicht da draußen in den Bach geworfen. Das geht nicht.«
»Klär mich auf, Chef. Weißt du was, was ich nicht weiß«, sagte Annabella Scholz mit pikiertem Unterton.
»Ich darf mal.« Max Pfeffer nahm einem Kollegen die Taschenlampe weg und trat aus dem gleißenden Licht der Spots. Er ließ den Lichtkegel der Lampe über die Wände an der rechten Seite wandern. Man konnte deutlich erkennen, wie hoch der durchschnittliche Wasserstand war. Bis über Hüfthöhe reichten die Algen. Darüber war der Beton trocken und blank. Pfeffer ließ das Licht ein wenig höher wandern. Annabella Scholz pfiff leise und Dr. Gerda Pettenkofer gab ein undefinierbares Glucksen von sich.
»Verstehe«, sagte die Hauptkommissarin. Sie trat näher an die Wand und klopfte gegen die Eisentür über ihr an der Wand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Türgriff zu erreichen und rüttelte daran. Nichts tat sich.
»Und woher wusstest du das, Maxl?«, fragte die Rechtsmedizinerin.
»Bin hier aufgewachsen«, antwortete Pfeffer knapp. »Wenn jemand etwas so Großes in den offenen Bachlauf wirft, dann wird das von der automatischen Rechenanlage draußen gestoppt. Die soll nämlich genau so was verhindern. Dass Menschen in den unterirdischen Bachlauf geraten. Die kann keiner mehr retten. Einmal hatte sich eine Leiche darin verfangen. Ein Obdachloser, der vermutlich betrunken ins Wasser gefallen war. Lange her. Also muss jemand die Leiche hinter der Rechenanlage reingeworfen haben. Das könnte er theoretisch noch auf dem schmalen Streifen zwischen Rechenanlage und Haus machen. Aber da ist das Gelände unwegsam, steil und besonders dicht bewachsen. Aus besagten Gründen. Also bleibt ein logischer Schluss: Jemand hat die Tote über den Kellerzugang in den Bach geworfen. Du hast vermutlich recht, Bella, dass das Bündel trotz des Gewichts von der Strömung ein wenig mitgerissen wurde, bis es auf den Boden sank. Also bleiben uns die Zugänge von hier bis vorne zum Tunnelbeginn.«
Hauptkommissarin Scholz machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang und kniff die Augen zusammen. »Vier oder fünf, würde ich sagen.«
»Vermutlich.« Pfeffer gab die Taschenlampe dem Kollegen zurück. »Wissen wir denn schon, wer die Tote ist?«
Annabella Scholz schüttelte den Kopf. »Sie ist nackt. Keine Papiere, keine auffälligen Merkmale.«
»Dann sollten wir uns mal mit den Lebenden oben beschäftigen. Vielleicht wird ja eine alte Dame vermisst. Wer hat eigentlich die Tote gefunden?«
Doktor Gerda Pettenkofer deutete mit dem Kopf in Richtung der zwei Männer in orangefarbener Arbeitskleidung.
»Bachauskehr«, sagte Pfeffer leise, »wie jeden April. Du hast ihre Aussagen, Bella?«
Die Hauptkommissarin nickte. »Mehr als die Tatsache, dass sie sie gefunden haben, konnten sie allerdings auch nicht beitragen.«
Max Pfeffer ging zu den beiden Männern, die aufmerksam die Arbeit der Spurensicherung beobachteten.
»Seit wann ist Bachauskehr?«, fragte er den Älteren. Doch bevor Rudi seinen Mund öffnen konnte, sagte Mo: »Mann, Mann, Mann, das ist eine Scheiße, Alter.«
»So kann mans auch nennen. Trotzdem meine Frage: Wann wurde das Wasser abgestellt?«
»Vorigen Mittwoch«, sagte Rudi.
»Gerda?«
»Bin hinter dir, Max.«
Pfeffer drehte sich um und runzelte die Stirn, als wäre ihm eben etwas eingefallen. »War die Leiche eigentlich nass? Lag sie eindeutig im Wasser?«
»Eindeutiger geht es nicht. Ich würde sogar sagen, dass sie längere Zeit im Wasser lag. Das Wasser ist so verdammt kalt, dass sich jedweder Verwesungsprozess stark verlangsamen muss. Selbst wenn das Wasser jetzt schon eine Woche nicht mehr kühlt, hier drunten ist es immer noch saukalt.«
»Gut, dann fällt meine Theorie, dass der Täter die Bachauskehr genutzt hat und trockenen Fußes reingekommen ist, um die Tote hier hinzulegen, flach.«
»Darf ich eine rauchen?«, fragte Mo und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Gute Idee«, sagte Dr. Gerda Pettenkofer. Sie zückte ihre Zigaretten und einen kleinen Taschenaschenbecher. »Auch eine, Max?«
»Ja, aber lass uns rausgehen, wenn wir hier fertig sind. Brauchen wir die Zeugen noch, Bella? Nein. Okay. Dann können Sie gehen. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir noch Fragen haben. Danke.«
»Süß, der Migrationshintergründler«, sagte die Rechtsmedizinerin, als sie aus dem Kanal ins Freie traten und gab Pfeffer Feuer.
»Süßer Migrationshintergründler? Wusste gar nicht, dass du auf öläugige Bubis stehst.«
Annabella Scholz lachte.
»Ich guck ja nur. Er ist ganz putzig, wenn man den hardcore-südländischen Typ mag.« Die Rechtsmedizinerin nahm einen tiefen Zug. »Tu nicht so, Maxl. Ich weiß, dass bei dir auch der exotische Typ Paarungsbereitschaft evoziert.«
»Was bei mir Paarungsbereitschaft auslöst, steht nicht zur Debatte und deine Hormonbooster interessieren mich, ganz im Vertrauen, werte Gerda, nicht die Bohne.«
Der Regen hatte aufgehört, stattdessen zog leichter Nebel auf. Die Abenddämmerung setzte ein.
Gerda Pettenkofer erklomm schwer schnaufend die Aluminiumleiter und stapfte durch das Gebüsch hinauf zur Pestalozzistraße. Zwei Altbauten in der Straße waren eingerüstet. Riesige Transparente kündeten von den »Wohnträumen in begehrter Lage«, die hier entstünden. Begehrte Lage. Pfeffer musste lachen. Die Gegend war früher mal ein echtes Glasscherbenviertel gewesen. Pfeffer kannte sich aus. Hier war er aufgewachsen. Zugegeben, nicht direkt hier im Glockenbachviertel, sondern ein paar Straßen weiter südlich im Schlachthofviertel. Aber das gesamte Areal der Isarvorstadt gehörte damals zu seinem Kiez, er kannte alle Gassen und Winkel. Damals beherrschten gewaltbereite Jugendbanden die Gegend, und Pfeffer hatte gelernt, sich zu prügeln. Er war nie davongelaufen. Er hatte seine blauen Augen und Blessuren mit Stolz getragen. Er erinnerte sich an den Baiersbrunner Schorschi, der besonders skrupellos die Jüngeren schikanierte und mit sadistischer Perfektion quälte. So wie damals, als Schorschi zwei seiner devoten Lakaien den jungen Pfeffer festhalten ließ, damit er ihm »die blöde Schlachthoffresse zur Schlachtplatte hauen« konnte, wie es der Schorschi ausdrückte. Damals hatte Pfeffer das erste Mal festgestellt, wie empfindlich Jungs im Genitalbereich sein können. Und da Max Pfeffer schnell und wendig war, bekamen nicht nur die beiden Lakaien seine Stiefel zu spüren, sondern auch der Schorschi. Dem Schorschi brach er dann noch die Nase. Danach ließen sie ihn in Ruhe. Der Schorschi hatte sogar versucht, sein Freund zu werden. Doch Max Pfeffer konnte sich beherrschen.
Damals gab es auch noch die billigsten Striplokale der Stadt im Viertel und den Straßenstrich an der Müllerstraße. Die Mieten waren ein Witz verglichen mit den begehrten Wohnlagen in Schwabing oder Haidhausen. Also kamen bald die Künstler, die Kreativen und mit ihnen die Schwulen. Das Schmuddelkind Isarvorstadt wurde langsam cool und hip. Lange Jahre stimmte der Mix aus Alt und Neu, aus schwul und hetero, aus Szene und Gerontologie. Den Begriff Glockenbachviertel kannten nur die Einheimischen und es war ein Bäh-Wort, dort wollte niemand zu Hause sein. Also sagte man entweder, man wohne im Gärtnerplatzviertel (schon erheblich besser) oder gleich in Thalkirchen (noch viel besser). Dann änderte sich alles. Die Kreativen zogen die Chichis nach sich, die schwule Partyszene zog das hetero Ballermannpack nach sich, die Immobilienpreise explodierten, die Mieten stiegen ins Obszöne, die erwachsen gewordenen Schlägertypen konnten sich ihren Kiez nicht mehr leisten und mussten an den Stadtrand ziehen. Statt verrosteter Toyotas oder Corsas eroberten SUVs und Mini Cooper die schmalen Straßen. Plötzlich gab es nur noch das Glockenbachviertel, vom Viktualienmarkt bis mitten hinein nach Sendling. Und die Schlachthofviertler