Pechwinkel. Martin Arz
Pfeffer hatte auf einem alten Volvo einen Aufkleber gesehen, den er sich unbedingt besorgen wollte: »Willkommen im Viertel, ihr Arschlöcher!« Dann musste er sich aber eingestehen, dass er mittlerweile selbst dank seiner Einkommensklasse den Lebensstil der Arschlöcher pflegte. ›Aber immerhin‹, so sagte er sich, ›habe ich eine andere Einstellung.‹ Er fuhr keinen SUV, mied Bioläden – hauptsächlich, weil Tim fürs Einkaufen zuständig war – und hatte keinen kreativen Job. Obwohl er sich seinen Job durchaus kreativ gestaltete.
»Wir sehen uns morgen im Büro, Bella«, sagte Max Pfeffer zu seiner Kollegin. »Dann machen wir uns auf die Suche nach vermissten alten Frauen und ihren Mördern.«
»Geht klar, Chef.« Die Hauptkommissarin verabschiedete sich und ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter.
»Ihre erste Woche als Hauptkommissarin«, sagte Pfeffer und sah seiner Kollegin hinterher.
»Was?« Doktor Pettenkofer gab dem Kriminaler einen Schubs. »Sie ist befördert worden? Warum sagt mir keiner was? Ich hätte ihr gratuliert!«
»Ich muss da lang«, sagte Max Pfeffer.
»Und ich da.« Die Rechtsmedizinerin deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Begleitest du mich zum Auto?«
»Hast du Angst, alleine zu gehen?« Pfeffer schmunzelte. »Allein in München. Grusel. Noch dazu im Glockenbachviertel. Shiver!«
»Blödmann.« Die Rechtsmedizinerin zündete sich eine neue Zigarette an. »Dachte immer, du wärst ein Kavalier. Dann begleite ich dich eben zu deinem Auto, Maxl, schließlich sind wir im Glockenbachviertel, und schon mein Vater selig hat immer gesagt, dass man da als Mann mit dem Arsch zur Wand durch die Straßen laufen muss, damit man nicht ganz die Unschuld verliert.«
»Weiser Mann, dein Vater.« Pfeffer lachte.
»Ein Depp war er!«
»Oder so.«
»Wenigstens hast du jetzt bessere Laune. Sag, wo steht dein Wagen, Maxl? Ich begleite dich wirklich.«
»Mein Wagen steht nirgends. Ich bin gelaufen.«
»Echt?« Doktor Gerda Pettenkofer blieb abrupt stehen. »Von Obermenzing bis hierher?« Sie pfiff durch die Zähne.
»Nicht von Obermenzing. Ich wohne zurzeit hier ums Eck. Zurück in der alten Hood. Und ich bin ein Kavalier, die Dame. Ich begleite dich doch selbstverständlich.« Sie bummelten weiter die Pestalozzistraße hinunter, kamen an der Heilsarmee vorbei und steuerten auf den alten Suzuki-Geländewagen der Rechtsmedizinerin zu, der unter einer Laterne vor einem Tagescafé parkte.
»Oh, rausgeschmissen worden? Erzähl! Ich brauche mehr Details.« Die Rechtsmedizinerin sah den Kriminalrat sensationslüstern an.
»Es ist denkbar banal, Gerda-Hase. Wir haben beschlossen, die Bäder neu machen zu lassen. Na, eigentlich nur das obere Bad. Da die aber empfohlen haben, gleich das ganze Rohrsystem zu erneuern, haben wir uns dazu entschlossen, alle Bäder und Toiletten im Haus neu machen zu lassen. Ach ja, und die Küche. Da wurde seit der Erbauung nichts mehr gemacht. Alles original Zwanzigerjahre. Lauter Schrott. Kostet eine Stange und das ganze Haus ist eine Baustelle. Und wir sind alle ausgezogen. Na, eigentlich nur ich.«
»Ich sagte doch: mehr Details!« Sie waren längst neben dem alten japanischen Geländewagen der Rechtsmedizinerin angekommen, und Gerda Pettenkofer lehnte sich gegen die »Friseusenschleuder«, wie sie ihr Auto selbstironisch nannte.
»Cosmo hat Osterferien und ist auf Ibiza, angeblich fürs Abi lernen. Flo ist in England, und Tim hat ein dreiwöchiges Seminar bei einem Pharmariesen in Hamburg. Nur ich bin hiergeblieben. Einer muss ja die Bauarbeiten beaufsichtigen. Ich habe per Zufall hier um die Ecke eine Wohnung als Zwischenmieter bekommen. Kostet mich nur die Nebenkosten.«
»Echt? Wer ist so großzügig?«
»Severin Hemberger. Der Ex von meiner Ex. Na, streng genommen ist er nicht der Ex meiner Ex, sondern so was wie der Witwer meiner Ex. Sie waren nicht verheiratet, als sie starb. Aber zusammen, du verstehst?«
»Der Ex von deiner Exfrau bietet dir ein Dach über dem Kopf? Hat er jetzt das Ufer gewechselt?«
»Nö.« Pfeffer schlug den Jackenkragen hoch. Es war kalt, viel zu kalt für einen normalen Aprilabend. Aber was war in den letzten Jahren schon normales Wetter. Seit das Thema Klimaerwärmung in aller Munde war, hatte sich Pfeffer auf lange, heiße Sommer und milde Winter gefreut. Er war wetterabhängig, was seine Stimmung anging. Er brauchte Sonne und Wärme. Doch statt Sonne und Wärme waren die letzten Sommer desaströs verlaufen. Und auch ein richtiger Frühling ließ sich nicht mehr blicken. Meist klebte ein dichter grauer Deckel über der Stadt oder es regnete, und die Winterdepression wollte nicht aus Pfeffers Seele weichen. Kalter Nebel stand mittlerweile zwischen den Häusern.
»Der Ex von meiner Ex ist eigentlich ein ganz netter«, sagte Max Pfeffer. »Er hat meine Ex wirklich geliebt. So richtig mit allem drum und dran. Wie man es sich wohl nur wünschen kann, geliebt zu werden. Als sie dann gestorben ist, hat ihn das völlig aus der Bahn geworfen. Ebenfalls so richtig mit allem Drum und Dran. Klapsmühle, Psychopharmaka und so. Er musste seinen Weinladen aufgeben, Offenbarungseid, totale Pleite, und alles, was du dir an Drama vorstellen kannst. Er hartzt nun und fristet ein Hungerleiderdasein als freischaffender Künstler.«
»Und er vermietet also unter, um Geld zu verdienen?«
»Nein. Er hat eine Zweizimmerwohnung vorne in der Arndtstraße, die hat ihm sein Vater verschafft, der im selben Haus wohnt. Nun ist sein Vater wegen Schlaganfall für mehrere Wochen in der Reha, und dessen Wohnung steht leer. Neulich habe ich per Zufall mit Severin telefoniert, er erkundigt sich alle Jubeljahre mal nach den Kindern, weil er die Jungs echt mag, und da sind wir auf das Thema Badumbau gekommen etcetera, und er hat mir die Wohnung seines Vaters angeboten. Nun wohne ich vorübergehend in einer Wohnung, die nach altem Mann müffelt und die mit den schockierendsten Möbeln der Nachkriegszeit eingerichtet ist, die du dir vorstellen kannst.«
»Das möchte ich sehen.« Die Rechtsmedizinerin klatschte begeistert in die Hände. »Wann lädst du mich auf einen Kaffee ein?«
»Definitiv nicht jetzt. Machs gut, fahr vorsichtig und dann süße Träume.«
»Dir auch ’ne gute Nacht, Maxl.«
03
Pfeffer ging den Weg zurück. Der Leichenwagen fuhr eben weg. Pfeffer bog von der Pestalozzistraße in den kleinen Weg, der neben dem Bach durch die Grünanlage führt. Der Kriminalrat vergrub die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, als er über den kleinen Steg ging, der über den Bach führt. Totensteg heißt der im Volksmund, weil er vom Glockenbachviertel zum Seiteneingang des alten Südfriedhofs führt. Die feuchte Kälte drang durch die Kleidung. Novembernebel im April. Zum Kotzen.
Zu der späten Stunde begegneten ihm nur wenige Menschen. Sie tauchten schemenhaft auf und verschwanden in der Suppe. Die meisten hatten es ziemlich eilig. Einer wankte bedenklich, eine Alkoholfahne wehte ihm noch lange nach, als er längst wieder im Nebel abgetaucht war. Eine Frau führte ihren Hund spazieren. Besser gesagt, sie wartete am anderen Ende der Leine darauf, dass ihr Köter seine Notdurft mitten auf den Gehsteig verrichtete.
Max Pfeffer verkniff sich einen Kommentar. Sein jüngster Sohn Florian hatte sich einmal einen Hund gewünscht. Der Bub hatte partout nicht verstehen wollen, warum sein Vater das so strikt ablehnte. Max Pfeffer mochte keine Hunde, weil er devote Wesen verabscheute. Und er fand schon immer die Situation ziemlich absurd, dass sich Menschen an ein Vieh leinen, darauf warten, bis es abkotet, und zuletzt, sofern sie auf ihre Mitbürger Rücksicht nehmen, auch noch die Scheiße in kleinen Plastikbeutelchen einsammeln.
Es war aber auch ziemlich absurd, dass alte Frauen zum Bündel verschnürt in einen Bach geworfen wurden.
Als Pfeffer an den Altglascontainern neben dem Jugendhaus der Caritas vorbeikam, hörte er ein Keuchen und ein Würgen. Er blieb unschlüssig stehen, sein Gastbett rief. Endlich schlafen und niemanden mehr sehen. Pfeffer beobachtete den Mann, der sich vornübergebeugt am Grünglascontainer