Die wilde Reise des unfreien Hans S.. Martin Arz
Spitze wurde ihm später weggenommen. Man musste den Gefangenen nicht unnötig potenzielle Waffen überlassen. Nur eine kleine Pfeilspitze, aber dennoch. Gegen Abend kam jeden Tag ein Mann, der an einer langen dünnen Kette einen kleinen Kessel schwenkte, in dem stark riechende Kräuter brannten und räucherte die Zellen aus.
Der junge Bursche, der sich im Auftrag des Arztes auch um Hans kümmerte, zeigte Yorick, wie er die Wunden fachmännisch reinigen und neu verbinden konnte. Er war ein fröhlicher Kerl, der gerne lachte, worüber, konnten sich weder Hans noch Yorick erklären. Schließlich sagte der Bursche eines Tages: »Benim adım Cem.« Er wiederholte es langsam und deutete auf sich. »Cem. Benim adım Cem.« Dann deutete er auf Hans und Yorick.
Hans begriff als erster: »Hans. Benim adım Hans.«
»Hans! Bu komik bir isim.« Das sollte Hans später noch öfter hören – Hans, was für ein komischer Name. Cem lachte, als auch Yorick sich auf Türkisch vorstellte. »Cerh«, sagte Cem und deutete auf die drei Wunden. »Ciddi yaralar, Hans.«
»Ja, schwere Wunden«, seufzte Hans, ohne zu wissen, dass Cem genau das gesagt hatte. Und so begannen Hans und Yorick während der Gefangenschaft in Gallipoli Türkisch zu lernen. Dank der guten Versorgung machte die Genesung rapide Fortschritte. Sie bekamen kräftige Suppen mit gekochtem Gemüse, dazu eine körnige gelbliche Masse, die Hans zunächst für eine Art Hirse hielt. Später sollte er lernen, dass es Bulgur war. Neben Suppen gab es Linsen- und Bohnengerichte. Oft erhielten sie sogar gekochtes Fleisch, meist Pferd, denn viele Tiere waren schwer verwundet aus der Schlacht hervorgegangen und mussten getötet werden. Seltener kam Hammel in die Näpfe, einmal sogar Huhn.
Eines Tages brachte Cem ein schweres Stück Holz und ließ Hans damit Greifübungen mit der linken Hand machen. Hans verstand, dass seine Beweglichkeit wieder hergestellt werden sollte. Als das Greifen gut funktionierte, packte Cem Hans am Handgelenk und wies ihn an, mit Kraft dagegenzuziehen. Cem freute sich über jeden Fortschritt mindestens ebenso wie Hans und Yorick.
Bald konnte Hans mit Yorick Tricktrack spielen, wofür sie sich das Spielbrett auf den staubigen Boden malten und kleine grüne und schwarze Früchte als Spielsteine nutzten. Die komischen kleinen Früchte, die hauptsächlich aus einem großen Kern im Inneren zu bestehen schienen, bekamen sie täglich mit der Essensration. Hans mochte höchstens die schwarzen, die erinnerten ihn zwar an große Hasenköttel, aber die schmeckten weniger sauer als die grünen, doch meist verzichtet er ganz darauf. Oliven – den Namen lernte er erst später. Dass er ihren Geschmack einmal lieben und noch später vermissen würde, konnte er da noch nicht ahnen. Das Spiel Tricktrack, das in leicht abgewandelter Form unter dem Namen Backgammon in ferner Zukunft weltweit bekannt werden sollte, mochte Hans schon seit seinen Münchner Tagen. Er hatte es immer in den Badehäusern gespielt, wenn er auf seinen Vater warten musste. Die Würfel hatte ihnen Cem mitgebracht. Immer wenn er würfelte, sagte Hans »Puff«, wie er es als Bub gemacht hatte. Bis Yorick sagte, das Puff nerve ihn total und überhaupt: Was solle das denn sein?
»Das machen wir bei uns so«, erklärte Hans. »Weil die Würfel beim Fallen eben Puff machen.«
»Würfel machen nicht Puff«, entgegnete Yorick.
»Machen sie wohl! Puffpuffpuff. Das spielt man bei uns in den Badehäusern. Mein Vater hat immer gesagt, dass er nun zum Puff geht. So populär ist das bei uns.«
Yorick war ein passabler Gegner, der von Tag zu Tag besser spielte. So vergingen die Tage. Wenn Cem kam, sammelten sich immer mehr Burschen um Hans, denn auch sie wussten, dass es besser wäre, die Sprache ihrer neuen Herren zu lernen. Auch die anderen Pfleger begannen, ihren Schützlingen Türkisch beizubringen. Als es den Verwundeten besser ging, kam der Medicus nur noch alle zwei Tage vorbei. Schließlich gar nicht mehr.
Eines Tages, als Hans – höchst ungewöhnlich für ihn – trüben Gedanken nachhing und vor Heimweh Brustbeklemmung bekam, fragte er Yorick, um sich abzulenken: »Weißt du, was mit meinen Freunden geworden ist? Max und Josef?«
»Josef war der dumme, oder?« Yorick zuckte mit den Schultern. »Wenn er überlebt hat, dann wird er wohl auch hier irgendwo im Turm sein. Und Max war der, der so gut Laute spielen konnte? Komm mal mit.« Yorick half Hans auf. Sie durchquerten die große Zelle. Hans vermutete, dass um die hundert Gefangene ihr Schicksal teilten. Eben stand die Zellentür offen, bewacht von türkischen Soldaten. Wie jeden Tag am späten Vormittag wurden die Toiletteneimer ausgewechselt. Man hatte die Gefangenen in verschiedene Dienste eingeteilt, Essen verteilen, Stroh erneuern, Notdurfteimer wegbringen. Die Dienste wechselten täglich. Ausgenommen waren nur die Verwundeten. Einer, der einen Toiletteneimer mit stoischem Blick zur Tür trug und dort einen leeren in Empfang nahm, kam Hans bekannt vor. Aber das konnte nicht sein. Max war kaum wiederzuerkennen. Spindeldürr, mit hängenden Schultern, leerem Blick und schmalen Lippen schlurfte Max an ihm vorbei.
»Max.« Hans packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich bins.«
Max hob kurz den Kopf und starrte durch ihn hindurch, dann versuchte er seinen Weg fortzusetzen.
Yorick zog vorsichtig Hans’ Hände weg. »So ist er seit der Schlacht«, sagte Yorick nüchtern. »Er redet nicht mehr. Überhaupt reagiert er nicht mehr. Er hört wohl, was man sagt, und macht alles, was man ihm sagt, aber er reagiert einfach nicht mehr wie ein Mensch. Ein lebender Toter.«
»Ein lebender Toter.« Fassungslos ließ Hans die Arme sinken. »Aber, Max …«
Max stellte den leeren Eimer in die Notdurftecke, schlurfte dann an seinen Platz, wickelte sich in die grobe Decke, die jeder von ihnen bekommen hatte, und setzte sich hin. Er wiegte leicht den Oberkörper vor und zurück, rührte sich ansonsten nicht weiter.
Hans taumelte zurück zu seinem Platz. Über das Grauen, das sie überlebt hatten, hatten sie nie auch nur ein Wort verloren. Es war einfach Teil ihres Lebens, Teil von Gottes unergründlichem Plan. Seit Beginn der Schlacht gab es für Hans nur noch das diffuse, gewaltige Rauschen, in dem alle Erinnerung verschwand. Er sackte an seinem Platz zusammen und gab sich dem heulenden Elend hin, das ihn übermannte. Das letzte Mal hatte er so geheult, als seine Mutter gestorben war. Sieben Kinder hatte sie zur Welt gebracht, davon hatten immerhin drei die ersten Jahre überlebt. Hans, sein älterer Bruder Mathis und seine kleine Schwester Maria. Die Geburt des achten Kindes überlebten weder die Mutter noch das Baby.
Yorick setzte sich daneben und schwieg, bis es vorbei war.
Während der zwei Monate im Turm von Gallipoli veränderte sich die Stimmung unter den Gefangenen. Aggressionen brachen aus. Die Verwundeten ließ man weitgehend in Ruhe, Hans sowieso, denn er gehörte zu den Älteren, und man wusste, dass er sich im Kampf wie ein Mann geschlagen hatte. Er galt als ›Türkenfresser‹, hatte er doch mindestens fünf Türken getötet. Dennoch wünschte sich Hans, dass Josef noch bei ihnen wäre, denn der hatte sich nie gescheut, ordentlich zuzuschlagen. Auch um Yorick machte man einen Bogen, denn der war größer als alle anderen, und wenn er nicht bei Hans war, hing er mit ein paar flämischen Jungs herum, die sich zu wehren wussten. Schnell entstanden aus Nichtigkeiten brutale Schlägereien. Die türkischen Wachen gingen nicht immer dazwischen. Je nach Lust und Laune. Banden rotteten sich zusammen, meist nach Herkunftsländern. Eine Gruppe von Spaniern aus Kastilien mit ihrem Anführer, einem sehnigen fünfzehnjährigen Burschen mit gebrochener Nase, den alle nur Don Juan nannten, genoss bald den größten Respekt. Don Juan, der stets betonte, er sei Juan Gonzáles de Clavijo, und hätte aufgrund seines Standes überhaupt nichts bei den einfachen Knappen verloren, sondern würde zu den Edlen gehören, terrorisierte mit Vorliebe die Jüngeren und Schwächeren. So pinkelte er in das Essen eines kleinen Italieners und zwang ihn anschließend, alles runterzuschlucken.
Einmal ging Yorick dazwischen, als Don Juan einen kleinen Buben in der Mangel hatte. Don Juan packte den Jungen am Hals, hielt ihm seinen Penis vor die Nase und drohte, ihm damit sein Maul zu stopfen. Hans verstand zwar kein Spanisch, aber was er sah, ließ nicht viel Interpretationsspielraum. Obwohl der kleine Junge kein Flame war, griff Yorick ein. Eine Keilerei entstand, doch bevor ein wirklicher Kampf losgehen konnte, flog die Tür auf. Ein türkischer Edelmann mit prächtiger golddurchwirkter Kleidung und üppigem schwarzen Vollbart betrat mit drei Wachen den Saal. Ein Bär von einem