Zeppelinpost. Florian Scherzer
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Therese, nur du hast mir das letzte Jahr lebenswert gemacht. Verzeih, dass ich dich töten musste.
Im Jahr 1997 wurde das sogenannte Karl-Valentin-Haus in der Zeppelinstraße 41 im Münchner Viertel Au renoviert. Dabei wurde in einem Kellerabteil des Vorderhauses neben vielen anderen Gegenständen, Möbeln und Müll aus den über hundert Jahren davor, ein ramponierter Schreibtisch gefunden. Der Entrümpler hielt ihn für wertlos und verkaufte ihn zusammen mit einigen anderen Möbeln aus dem Haus für zehn Mark weiter. Der Tisch landete in der Werkstatt des Restaurators Kagerer in der Rumfordstraße und wartete dort über zwanzig Jahre darauf, weggeworfen oder hergerichtet zu werden.
Als es endlich soweit war, begann der Restaurator als Erstes damit, die stark verklemmte Schublade mühselig herauszulösen. In der Hoffnung, dort einen kleinen Schatz zu finden. Münzen oder alte Geldscheine, die sich noch an Sammler verkaufen ließen. Das passierte nicht gerade selten. Zwar eher in Nachtkästchen oder Bettgestellen als in Schreibtischen, aber man wusste ja nie. Schließlich konnte man es sogar klappern hören, wenn man den Tisch rüttelte. In der Schublade war aber nichts als ein einzelner sehr dicker Briefumschlag mit vielen maschinengeschriebenen Seiten darin. Zwischendrin hand- und maschinengeschriebene Briefe, an deren Rand kleine Zettel geklebt waren, die offenbar einzelne Passagen der Briefe kommentierten. Das Kompendium war die ausführliche Lebensbeichte eines Carl Dürrnheimer. Die eigentlich viel interessantere Geschichte aus dem Haus in der Zeppelinstraße 41. Spannender als die Lausbubengeschichten aus der Jugend von Karl Valentin. Aber dafür deutlich weniger lustig.
Kagerer schenkte das Bündel Papier meinem Cousin, als er ihm den aufpolierten Schreibtisch für sein erstes Büro abkaufte. Der schenkte es mir, weil »du dich doch für so Historisches interessierst«. Ich las es und wollte meine Facharbeit am Gymnasium darüber schreiben. Mein Geschichtslehrer war dagegen und ich beschloss, im Studium oder später mal irgendeine Arbeit darüber zu schreiben. Irgendwann.
Als ich viele Jahre später unseren Keller räumen musste, weil seit Jahren Abwasser ins Mauerwerk gesickert war und alles renoviert werden musste, fiel mir dieses überraschend gut erhaltene Bündel Papier in die Hände. Gleich daneben fand ich, deutlich aufgeweichter, meinen Collegeblock mit meinen sehr kryptischen Aufzeichnungen von damals, als ich noch dachte, dass dies das Thema meiner Facharbeit sein würde.
Mein Kind ist nun groß genug, um meistens alleine zurechtzukommen, die Frau arbeitet Vollzeit, und ich habe plötzlich Freiräume, die es mir ermöglichen, alles noch einmal von Neuem anzusehen, zu lesen und dieses Buch daraus zu machen:
1
München, im April 1933
Mein Name ist Carl Dürrnheimer. 31 Jahre. Geboren am 12. Februar 1902 in Neustadt an der Haardt/Pfalz (Kgr. Bayern). Wohnhaft Zeppelinstraße 41 in München.
Ich werde in den nächsten Stunden verhaftet werden und bin mir sicher, dass ich in den folgenden Wochen wegen des Mordes an meiner Verlobten Therese Aumiller zum Tode verurteilt werde. Oder zumindest zu lebenslänglich. Ich werde mich nicht gegen das Urteil wehren und während des Prozesses schweigen. Wenn es denn einen gibt. Das weiß man ja heutzutage nicht mehr. Ich habe mich zu sehr in einem undurchdringlichen Geflecht aus Geschichten und Erfundenem verstrickt, um jemals mit der Wahrheit glaubwürdig zu sein. Ich wüsste gar nicht, wie ich in dieser Situation noch meine Unschuld beweisen könnte. Das haben mir die beiden Polizisten mehr als deutlich gemacht. Es ist leichter, mich meinem Schicksal zu ergeben als zu kämpfen. Ich bin auch zu erschöpft, um mich noch groß gegen Ermittler und Staatsanwälte aufzubäumen. Mein Leben mit Therese war so erfüllt, dass es mir nicht schwerfällt, einfach auch zu verschwinden, jetzt, wo sie weg ist. Ohne Therese hat mein Leben ohnehin keinen Inhalt mehr. Das muss ich mir eingestehen. Nichts würde mein Weiterleben rechtfertigen. Was soll auch nach diesem wundervollen Jahr mit ihr noch kommen?
Ich schreibe dies, um die Wahrheit von der Seele zu haben. Ohne die Hoffnung, dass dieser Zettelhaufen jemals zu meiner Rehabilitierung beitragen könnte. Ich bin es Therese einfach schuldig, alles niederzuschreiben. Ich schreibe alles nach
bestem Wissen und Gewissen auf. Aber auf mein Gedächtnis ist Verlass. Vielleicht können Sie mich ja ein klein wenig verstehen und merken, dass es Ihnen in meiner Situation nicht anders gegangen wäre.
2
Ich wurde im Jahr 1902 als einziges Kind des Ehepaars Dürrnheimer in Neustadt an der Haardt in der bayerischen Pfalz geboren. Ich hatte wahrscheinlich eine sehr glückliche frühe Kindheit. Meine Erinnerungen daran sind natürlich sehr verschwommen und undeutlich. Deshalb weiß ich es nicht mehr so genau. Aber neben jenen an die Zeiten mit Therese, sind es die schönsten Erinnerungen meines Lebens.
Wir wohnten in einem Haus mit Garten. Die Mutter war für mich da, es gab Nachbarskinder, Tiere, eine Sandkiste und eine Teppichstange zum Turnen. Alles, was sich ein kleiner Bub wünscht. So hat es jedenfalls die Mutter immer erzählt, und so wirkt es auf den wenigen Fotografien, die von damals noch existieren. Ich selbst erinnere mich nur verschwommen an ein Versteck in einem Gebüsch, einen toten Vogel, den wir beerdigten und Lurche oder Molche in einem großen Weckglas. Eine normale Kindheit in einer frohen und zufriedenen