Zeppelinpost. Florian Scherzer

Zeppelinpost - Florian Scherzer


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Neusten Nachrichten, der Münchner Zeitung oder der Vossischen aus dem Jahr 1929 über den Zeppelinverkehr zwischen Deutschland und Rio de Janeiro. Wenn man nichts hat, an das man denken muss, bleiben einem alle möglichen Details aus Gelesenem im Kopf. Viel Unnützes, das manchmal dann doch zu etwas nutze war. Eine Samstagsausgabe musste es gewesen sein, weil mir die Situation im Gedächtnis hängen geblieben war, in der ich den Artikel gelesen hatte (im Biergarten des Bürgerbräukellers). Also musste es im Sommer gewesen sein und an einem Tag, an dem ich frei gehabt hatte. In der grausamen Unordnung meiner Wohnung gab es einzig bei den Zeitungen, die ich hortete, auf Grund meiner Faulheit eine gewisse Ordnung. Ich legte sie immer auf den gleichen Stapel, sobald ich damit durch war. Umgekehrt chronologisch. Ich musste nur ein bisschen wühlen, um an die richtige Ausgabe zu kommen.

      Ich fand das gesuchte Exemplar der Vossischen nach nicht allzu langem Suchen. Eine große Fotografie des riesigen Luftschiffs ›Graf Zeppelin‹ über der Stadt New York. Das Bild musste aus einem Flugzeug heraus fotografiert worden sein, denn es zeigte den Zeppelin von schräg oben. Weit unter sich die Stadt und ein Hafen an einem breiten Fluss oder einer Bucht, über den eine Brücke führte.

      Im Artikel selbst ging es um die gewaltige Leistung, die es brauchte, um das riesige Gebilde über den Atlantik zu fahren, über den Pioniergeist von Hugo Eckener, den Direktor der DELAG und Kommandanten der ›Graf Zeppelin‹, und über die enorme Ingenieurleistung, die hinter der Gerippekonstruktion steckte. Der Artikel schwärmte von der rosigen Zukunft, die uns das Zeppelinfahren bringen würde. Luxuriöse, vergleichsweise kurze Reisen in alle möglichen Länder der Erde. Kontakt und Austausch zwischen den unterschiedlichsten Völkern des Planeten. Wenn erst einmal der Chinese mit eigenen Augen sehen würde, wie man in Europa lebt und der Europäer den Chinesen besser kennenlernen würde, würde sich das Verständnis füreinander erhöhen, und die Menschen würden sehen, dass sie gleich sind und keinen Anlass mehr für Kriege, wie den letzten haben. Der Zeppelin, ein gigantisches Friedenswerkzeug, so der Autor des Artikels.

      Ich las Burgls Brief wieder und wieder. Ich konnte gar nicht aufhören. Bei jedem Mal Lesen wachte ich ein bisschen mehr aus meiner zwölfjährigen Lebenslethargie auf. Komischerweise war meine erste Reaktion nicht Lachen oder Weinen, wie man es vielleicht erwarten würde, sondern Appetit. Essen war seit 1919 nur noch Nahrungsaufnahme gewesen, und plötzlich war da ein Gelüst nach kaltem Leberkäse mir Meerrettich. Mein Appetit war so stark, dass ich ihm unbedingt nachgeben musste. Der Metzger hatte schon geschlossen, aber es war relativ mild, und ich wusste, dass es im Bürgerbräukeller kalten Leberkäse gab. Ich nahm den Brief und setzte mich in den Biergarten. Ich aß Leberkäse und las den Brief noch zehn Mal.

      Nach dem Appetit kam die Traurigkeit. Zum ersten Mal weinte ich in der Nacht auf den 10. September über den Tod der Eltern. Dann kam die Sehnsucht ,nicht mehr alleine zu sein und endlich, am 10. abends, kamen die Lust und Burgls Busen zurück in meine Tagträume.

      Mit Tagträumen meine ich übrigens nicht nur Sexuelles. Auch in Erinnerungen wühlen und ein bisschen Melancholie. Der siebzehnjährige Carl war plötzlich zurück und mit ihm die ganze Verzweiflung, das Alleinsein und das Unsichtbarsein. Aber auch die Hoffnung, als Burgl schwanger geworden war und die Euphorie bei den gemeinsamen Spaziergängen. Natürlich erinnerte ich mich auch an die Enttäuschung, als Burgl einfach verschwunden war. Daran dachte ich am längsten, weil es ja die Ursache für meinen lethargischen Lebenswandel in den Jahren darauf war.

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