Zeppelinpost. Florian Scherzer

Zeppelinpost - Florian Scherzer


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und wie mein eigenes behandeln. Burgl und ich würden heiraten und ich, statt zu studieren, arbeiten. Ich war ja nicht dumm, irgendetwas würde ich schon finden. Verkäufer oder im Büro. Mit so und so viel Mark pro Woche konnten wir so und so viel zu essen kaufen, rechnete ich. Mit einem zweiten Kind würden wir aber so und so viel brauchen. Wenn ich es jedoch schaffen würde zu studieren, würden wir später so und so viel verdienen können, und wir könnten in ein Haus mit Garten nach Obermenzing ziehen. Ich müsste für so und so viel Geld so und so lang arbeiten und hätte dann so und so viele Stunden Zeit für meine Familie. Das alles plante ich genau durch. Ich habe sogar noch die Aufzeichnungen dazu. Ich füge sie dieser Sammlung jedoch nicht hinzu, weil mir meine naiven Auflistungen peinlich sind.

      Am nächsten Tag war es noch ein bisschen kälter. Ich hatte mir von meiner Mutter mit der Andeutung, dass es da jemanden gäbe, die vielleicht jemand werden könnte, vier Mark geliehen. Für so etwas ging sie sogar an ihre eiserne Reserve. Ihre einzige, vieldeutige Bedingung war, dass ich nur keinen Unsinn veranstalten sollte. Ich besorgte Blumen und wollte Burgl zum Mittagessen ausführen. In der Stadt, in einem richtigen Restaurant. Um zwölf war ich in der Lilienstraße. Doch die Wohnung der Schmaderers war leer. Nur ein Maler und zwei Lehrbuben weißelten die Zimmer gerade. Sie seien zurück nach Niederbayern. Sagte mir eine Nachbarin. Schon vor einem Monat. Was denn mit der Burgl sei, fragte ich, ob die auch mit sei, weil ich sie gestern noch gesehen hätte, fragte ich. Die Burgl sei mit, sagte die Nachbarin. Ganz sicher. Wo in Niederbayern, wisse sie auch nicht. Oder war es doch die Oberpfalz?

      Das wars. Wie sollte ich herausfinden, woher die Schmaderers gekommen und wohin sie gegangen waren? Ich fragte in der ganzen Nachbarschaft herum. Außer der Tatsache, dass alle froh waren, dass der ewig besoffen singende und krakeelende Schmaderer mit seinen unangenehmen Söhnen weg war, fand ich nichts heraus. Wie groß damals meine Hoffnungslosigkeit war, brauche ich wahrscheinlich nicht zu beschreiben. Meine, so glaubte ich damals, einzige Chance auf Liebe war weg.

      11

      Im Herbst begann ich nicht, wie von meinem Vater geplant, mit meinem Jurastudium. Ich schaffte es nicht. Seit Burgls Verschwinden hatte mich eine geistige und emotionale Lähmung befallen, die mich auch körperlich bewegungsunfähig und antriebslos werden ließ. Ich konnte mich nur in der Wohnung meiner Eltern aufhalten und verließ selbst mein Zimmer kaum noch. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich all die Monate dort trieb. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind blass und schwammig. Wenn ich mich doch gelegentlich aus meinem Zimmer herauswagte, schrie mein Vater: »Dafür habe ich dich nicht durch das Gymnasium geprügelt, dass du jetzt wie eine Memme in deinem Zimmer hockst, flennst und dich von mir durchfüttern lässt. Unternimm gefälligst was. Und wenn du dieses Semester nicht mit dem Studieren anfängst, dann arbeite halt wenigstens wieder irgendwas. Wir haben nicht das Geld, dich ewig weiter zu verhätscheln.« Ich nahm ihn kaum wahr. Meiner Mutter tat ich anfangs leid, später ging ihr meine andauernde Anwesenheit zu Hause auf die Nerven, und sie versuchte mich auch davon zu überzeugen, wieder mal nach draußen zu gehen, zu arbeiten, irgendwas zu unternehmen. Doch ich konnte nicht. Vielleicht wirkt das alles übertrieben für so eine kleine Abfuhr. Es war ja kaum je etwas passiert zwischen mir und Burgl. Doch zog mich der tiefe Fall zwischen der Hoffnung einer gemeinsamen Liebe und Burgls wortlosem Verschwinden in ein so tiefes Loch, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage war, mich aufzuraffen. Im Rückblick kommt mir mein damaliges Verhalten fast wie eine bewusste Entscheidung zu leiden vor. Fast als hätte ich mir nach den hoffnungsvollen Tagen mit Burgl eine Gefühlsabnahmekur verordnet.

      Ich weinte viel, starrte viel vor mich hin, aß wenig und bemerkte plötzlich im Frühling 1920, dass ich schlanker und ansehnlicher geworden war. Nicht nur meine Gefühle waren weniger geworden. Auch mein Fett. Ich sah die Veränderungen an mir und spürte, dass auch die Verzweiflung dumpfer geworden war. Die Enttäuschung war kleiner, aber sie war nicht durch neue positive Gefühle ersetzt worden. Ich konnte mich bald kaum noch selber in die trübe Leere hineinsteigern, die ich die Monate zuvor ohne Probleme durchgehalten hatte. Irgendwann traute ich mich sogar wieder auf die Straße und machte vorsichtig erste kurze Spaziergänge im Viertel und irgendwann auch wieder in Richtung Rosengarten und Wildnis am Flaucher. Meine Mutter bemerkte mein vermeintliches Erwachen, und sogar mein Vater schrie mich seltener an. Es ist schwer, meinen damaligen Zustand zu beschreiben. Ich habe lange darüber nachgedacht, und schließlich ist mir sogar ein Bild dafür eingefallen. Nach Burgl hatte ich mich unter ein graues, schweres, drückendes Tuch zurückgezogen. Nach und nach wurde es durch ein pastellfarbenes, etwas durchsichtiges, aber genauso schweres Stück Stoff ersetzt. Es erlaubte mir zwar, meine Umgebung wieder mehr und positiver wahrzunehmen, aber es lag doch noch so schwer auf mir, dass es mir keine echte Leichtigkeit ermöglichte. Ein albern-lyrischer Vergleich. Aber er beschreibt ganz gut, wie ich damals war.

      Nicht nur meine Eltern, sondern auch Mädchen im Viertel bemerkten die Veränderungen an meinem Äußeren, und ich bekam mit einem Mal, wenn auch nur oberflächlich, die Aufmerksamkeit von ihnen, die ich bisher von allen vermisst hatte. Hinzu kam, dass von den alten Cliquen kaum noch Burschen übrig waren. Viele andere, ein paar Jahre ältere Männer, waren im Krieg geblieben oder versehrt, und ich, als inzwischen halbwegs attraktiver junger Mann, stellte ein rares und begehrtes Gut dar. Ich bemerkte, dass eine kleine Gruppe von jungen Frauen auf mich zu warten begann, wenn ich losspazierte. Mimi und Frieda tauchten immer häufiger nach ihrem jeweiligen Dienstschluss und an den Wochenenden vor unserer Haustüre auf und hielten nach mir Ausschau. Ein paar Tage später schlossen sich die früher fast so sehr wie Burgl begehrten Grammerschwestern den beiden an. Ich hatte auf einmal Verehrerinnen. Natürlich heilt das keine seelische Wunde, und die Vertrautheit, die ich so kurz mit Burgl gehabt hatte, spürte ich in keiner der Plaudereien mit einer der jungen Frauen auch nur ansatzweise. Trotzdem half es mir dabei, mich besser zu fühlen und das Stück Tuch noch etwas weniger pastellfarben und kräftiger werden zu lassen. Auf eine gedämpfte Art und Weise wurde ich nach und nach wieder froher.

      An einem Mittwochnachmittag im Juli 1920 wartete die ältere Grammerschwester alleine vor dem Milchladen auf mich. Meine Mutter hatte begonnen, mir kleine Aufgaben zu geben, um meinen Vater noch mehr zu beruhigen und ihm zu zeigen, dass ich mich auf dem Weg zurück in die Gesellschaft und zum Studium befand. Zum Milchmann, zum Obststand, zum Bäcker, Bier holen oder Briefe aufgeben. Mehr traute sie mir nicht zu.

      Lisa Grammer war groß und üppig. Sie überragte mich um zehn Zentimeter, und ihre Kleider waren ihr immer etwas zu kurz. Deshalb konnte man mehr von ihren Waden sehen als bei anderen. Sie sagte nichts, sondern ging wortlos neben mir her, wartete auf mich, bis ich die Milch in die Wohnung gebracht hatte und ging immer noch schweigend an meiner Seite in Richtung Isar und weiter in Richtung Flaucher. Sie war offenbar davon ausgegangen, dass ich nicht einfach im Haus verschwinden würde, ohne zurückzukommen, sondern dass ich auf jeden Fall wieder erscheinen würde, um mit ihr weiterzuspazieren. Ich hätte mich gar nicht getraut, nicht wieder zu ihr nach unten zu gehen. Keiner sagte ein Wort.

      Ich möchte mich nicht in Details verlieren, aber so viel muss ich doch verraten. Es kam zu einer Art ungeschickter Liebeshandlung in der Wildnis am Flaucher. Meiner ersten dieser Art. Trotz feuchtem Boden und Mücken. Die Verzweiflung, Härte und Lieblosigkeit, die Lisa dabei an den Tag legte, überforderten mich anfangs mehr als die Tatsache, dass ich vollkommen unerfahren war. Ich wollte auch nicht, dass sich Lisas und mein Treffen wiederholte, doch als sie mich ungefragt zu einem zweiten und dritten Spaziergang traf, fing ich langsam an, zumindest an der sportlichen Komponente der Zusammentreffen Gefallen zu finden. Und als ein paar Wochen später fast die identische Situation mit Ilse, Lisas kleiner Schwester, passierte, hatte ich mich schon daran gewöhnt. Nach und nach kam es auch mit den anderen beiden aus meiner Verehrerinnengruppe zu ähnlichen Handlungen. Eine nach der anderen. Sie reichten mich herum wie ein letztes Bier.

      Anfangs kam ich mir in meiner Passivität seltsam und unmännlich vor. Ich hatte das Gefühl, zupackender sein zu müssen. Vielleicht einmal selbst die Initiative zu einem Treffen zu ergreifen. Doch ich traute es mir einerseits nicht zu, andererseits gefiel mir an den Zusammenkünften am meisten, dass die Frauen, so unterschiedlich sie auch waren, eines gemeinsam hatten. Sie benutzen mich ausschließlich zum eigenen Vergnügen. Manchmal kam ich mir fast abwesend, wie ein heimlicher Beobachter der Szenerie vor und schämte mich für meinen Voyeurismus.

      So


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