Zeppelinpost. Florian Scherzer

Zeppelinpost - Florian Scherzer


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Sorgen und Ängsten. Ich wurde zum Sorgenonkel und Freund. Wir verbrachten den restlichen August, den ganzen September und den halben Oktober damit, an der Isar spazieren zu gehen und zu reden.

      Mich hat die Tatsachte, dass Burgl, der ehemals allseits begehrte und beliebte Star des Viertels, Zeit mit mir verbringen wollte, nachhaltig beeindruckt. Vor allem weil diese Gespräche so einen großen Einfluss auf das, was später noch geschah, hatten.

       Ich traf Burgl zu bestimmt mehr als zwanzig Spaziergängen, an die ich mich noch sehr detailliert erinnere. So detailliert, dass ich sie noch fast Wort für Wort im Kopf habe.

      9

      17. August 1919 – Erster Spaziergang

      Ich hatte Burgl zuvor schon vom Fenster aus gesehen und tat so, als würde ich einen Botengang erledigen müssen, um sie wie zufällig auf der Straße zu treffen. »Dem Vater die Zeitung holen«, wollte ich behaupten. Ich fühlte mich mutig genug und rannte die Stiege hinunter und mit Absicht Burgl in die Arme.

      Burgl: Endlich mal einer, der zu mir läuft und nicht weg.

      Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen soll.

      Sie: Du bist der Carl, oder?

      Ich: Ja. Dürrnheimer.

      Sie: Ich habe dich schon mal gesehen. Du warst mit dem Grammer in der Volksschule, oder?

      Ich: Ja.

      Sie: Weißt du, wer ich bin?

      Ich: Die Schmaderer Burgl, glaub ich.

      Sie: Glaubst du … Tu nicht so, als würdest du mich nicht kennen. Mich kennt jeder in der Au. Die Schwangere. Die den Bastard bekommt.

      Ich: Ich bin nicht viel draußen und bekomme nicht so viel mit.

      Sie: Das wenn ich nur glauben könnte. Dass einer nicht weiß, wer die schwangere Schmaderer ist.

      Ich: Das kannst du ruhig glauben.

      Sie: Ich glaube es dir einfach mal. Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben.

      Ich: Ja.

      Sie: Wenn ich schon mal einen erwische, der sich noch kein Urteil über mich gebildet hat, sollte ich ihn festhalten, oder? Was hast du noch vor?

      Ich: Ich hole die Zeitung für den Vater.

      Sie: Beim Siebenmorgen?

      Ich: Ja

      Burgl lief einfach mit mir weiter.

      Sie: Nimmst du mich mit? Dann musst du nicht alleine gehen, und ich kann mal mit jemand Neuem reden.

      Ich: Wenn du nichts Besseres zu tun hast, kannst du schon mitkommen.

      Sie: Ich habe nichts Besseres zu tun, seit alle wissen, was mit mir los ist. Das kannst du mir glauben.

      Wir gingen recht lange schweigend nebeneinander her.

      Ich: Du musst halt nur neue Freunde finden. Das kann ja nicht so schwer sein.

      Sie: Das lohnt sich nicht mehr. Im Januar bin ich weg vom Fenster. Wenn das Kind da ist, heißt es Armenhaus oder Strich. Oder glaubst du, dass der Vater mich weiter durchfüttern will, jetzt wo ich alt genug zum Weggehen bin? Und dann auch noch das Kind? Außerdem finde ich ja gerade jemand Neuen. Dich, oder?

      Ich: Aber dein Vater kann dich doch nicht einfach wegschicken.

      Sie: Das kann er, und das macht er.

      Ich: Aber deine Mutter. Das würde doch deine Mutter nicht zulassen.

      Sie: Die hat noch mehr Angst vor ihm als ich.

      Wir sagten eine Weile nichts.

      Ich: Hast du Angst vor dem Kind und dem, was auf dich zukommt?

      Sie: Und wie.

      Ich: Das wird schon werden. Meistens wird alles nicht so schlimm wie gedacht.

      Sie: Ich habe niemanden.

      Ich: Einen Apfel oder so was kann ich schon immer irgendwo für dich auftreiben. Dann musst du schon mal nicht an Skorbut sterben.

      Sie lachte.

      Ich: Siehst du, alles gar nicht so hoffnungslos, oder?

      Ich erinnere mich, dass das ein wichtiger Moment war. Burgl hatte mir die Tür in ihr Herz ein ganz klein wenig geöffnet, glaubte ich damals. Ich hatte mich nicht dumm in ihrer Gegenwart gefühlt, und es war mir so vorgekommen, als würde sie mich nicht nur wahr-, sondern sogar ernst nehmen. Fast ebenbürtig. Zum ersten Mal seit 1908 wieder bemerkt werden. Ich erinnere mich, dass es ein richtiggehend euphorischer Abend wurde. Das Ende der Einsamkeit, glaubte ich. Mein Plan schien zu funktionieren.

      Ein paar Tagen später. Ich hatte Burgl inzwischen einige Male aufgelauert und den Eindruck, dass sie schon darauf wartete, zufällig getroffen zu werden. Unsere Spaziergänge waren zu regelmäßigen Ereignissen geworden. Aber wir taten noch immer so, als hätten wir irgendetwas zu erledigen, um eine offizielle Begründung für unsere Gänge zu haben. Sehr oft musste sie zum Milchladen, aber dem besonders guten in der Gebsattelstraße (und kaufte nichts, weil sie ihr Geld vergessen hatte oder die Butter ranzig wirkte), oder ich ging für den Vater zur Post oder zum Zeitungsstand auf der anderen Seite der Isar, wo es die speziellen Hefte gab, die der Vater wollte. ›Der Rätsler‹ oder ›Breslauer Kniffeleien‹. Meist hatte der Vater schon genau die Ausgabe, die dort auslag, und ich musste am nächsten oder übernächsten Tag noch mal nachsehen, ob die neueste Nummer schon da war.

      27. August 1919 — Sechster Spaziergang

      Ich traf Burgl zum ersten Mal nicht vor unserer Haustüre, sondern gegenüber auf der Isarseite der Zeppelinstraße. Weder sie noch ich hatten diesmal eine Ausrede für unseren Spaziergang vorbereitet. Wir gingen einfach nebeneinander her. Ich hatte das Gefühl, dass ihr Bauch in den letzten Tagen deutlich größer geworden war. Zum ersten Mal erkannte man überhaupt richtig, dass sie schwanger war. Aber vielleicht war es auch nur die Jacke, die sie trug, denn besonders warm war es nicht. Aber stickig. Ich hatte wieder einen Apfel für sie dabei, den ich vormittags extra gekauft hatte.

      Sie: Danke, dass du mir immer einen Apfel mitbringst. Kein Skorbut für mich und das Kind.

      Ich: Es ist ja nur Obst.

      Sie: Obst haben wir daheim nur, wenn die Mutter alle heiligen Zeiten in die Heimat fährt und einen Korb Johannisbeeren oder Kirschen von ihrem Bruder mitbringt. Aber meistens fressen die Brüder das schon am ersten Tag alles weg.

      Ich: Immer nur Obst ist ja auch fad.

      Sie: Daheim gibt es fast nur noch Brot. Von Vaters Elu können wir keine großen Sprünge machen.

      Ich: Der wird ja nicht ewig von der Unterstützung abhängig bleiben. Es kommen schon wieder bessere Zeiten, sagt meine Mutter.

      Sie: Ich glaube nicht, dass er jemals wieder eine Arbeit findet. So unleidig wie der immer ist. Wer will so einen? Die Brüder müssen zwar Kostgeld zahlen. Aber wie viel ist das schon?

      Ich: Mein Vater bringt auch nicht gerade viel heim. Seit der Krieg aus ist, verdient er kaum noch was, sagt er.

      Sie: Als hätte der vor dem Krieg mehr verdient. Oder warum wohnt ihr in der Au? Bestimmt nicht, weil es hier so lauschig ist.

      Ich: Ich glaube, dass die Mutter mehr verdienen könnte als er. Neulich hat sie gesagt, dass im Krüppelheim schon wieder Laborantinnen gesucht werden. Aber das will der Vater nicht.

      Sie: Wie geht es eigentlich bei dir weiter? Kann dein Vater die Studiengebühren bezahlen?

      Ich: Er sagt, dass er mich nicht durch das Gymnasium geprügelt hat, um mich jetzt nicht studieren zu lassen. Ich weiß nicht, woher er das Geld für die Hörergebühr nehmen will, aber er ist fest entschlossen. Vielleicht organisiert er ja irgendwie ein Stipendium. Für das Schulgeld hatte er auch jemanden, der es gezahlt hat. Ich habe einmal eine Quittung gefunden. Das waren zwanzig Mark im Monat.

      Sie:


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