Zeppelinpost. Florian Scherzer

Zeppelinpost - Florian Scherzer


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Ich glaube schon, dass du es so gemeint hast. Weil es ja auch wahr ist.

      Ich: Weil du mit allen rumgemacht hast?

      Sie: Aber nicht so, wie du denkst.

      Ich: Ich habe dich mit dem Franz gesehen. Wenn du schon mit so einem Gesichtsversehrten rumschiebst, was hast du dann erst mit den anderen gemacht?

      Sie: Das war alles anders. Auch das mit dem Franz.

      Ich: Wie soll es denn anders gewesen sein?

      Sie: Weil der Vater damals noch keine Elu gekriegt hat und keiner von den Brüdern, die nicht eingezogen waren, schon gearbeitet hat. Und weil die Mutter nicht gearbeitet hat, weil der Louis gefallen ist und sie zu traurig war, um etwas zu machen.

      Ich: Und deswegen hast du mit den Kerlen rumgemacht?

      Sie: Nicht nur einfach so.

      Ich: Jetzt rück schon raus mit der Sprache.

      Sie: Busen eine Mark, unten zwei Mark bei den Buben. Bei erwachsenen Männern Busen zwei Mark, unten drei Mark.

      Ich: Wirklich?

      Das ›Wirklich‹ sagte ich nicht, weil ich so schockiert über Burgls Verhalten war, sondern weil ich im Kopf nachgerechnet hatte. Eigentlich meinte ich ›Wirklich? So wenig?‹. Damals hätte ich mir für den Gegenwert von nur zehn Nusshörnchen meinen Traum von Burgls Busen erfüllen können. Das andere wäre für mich damals noch nicht interessant gewesen. Das wenn ich gewusst hätte. Busen anfassen und gleichzeitig schlank werden, weil ich weniger Nusshörnchen aß. Fast hätte ich gefragt, ob der Tarif immer noch galt. Aber Burgl ging es natürlich um etwas ganz anderes.

      Sie: Wirklich. Es war am Anfang ekelhaft. Weil die ja alle zwei Hände haben und mich aber nur mit einer angefasst haben. Wenn du verstehst, was ich meine. Dann habe ich einmal von dem ganzen Geld für die Familie Leberkäse gekauft, und alle waren so froh wie nie. Da war mir zum ersten Mal richtig klar, wofür ich das mache.

      Ich: Und der Franz, hat der mehr gezahlt? Weil er so ekelhaft war?

      Sie: Der Franz sieht schlimm aus. Aber er ist der Netteste von allen. Der hat nie von selber hingelangt. Ohne zu fragen, wie die anderen.

      Ich: Ich hab es doch gesehen, wie er dich gepackt hat am Flaucher. Gefragt hat er nicht.

      Sie: Weil er es durfte. Ich habe es ihm erlaubt.

      Ich: Mit dem Franz? Freiwillig? Kann der was, was die anderen nicht können?

      Sie: Nein. Die anderen haben zusammengelegt und ihm eine Runde Burglbusen spendiert. Und das Untenrum hab ich freiwillig gemacht. Weil er so zaghaft war und er mir auch leid getan hat. Und weil er ein Kriegsheld ist.

      Aus Mitleid und Patriotismus. Wie ich es mir schon gedacht hatte. War ich ihr denn nie bemitleidenswert genug erschienen? Ich hätte sogar eine Mark pro Brust bezahlt.

      Ich: Hat nie einer daheim gefragt, woher das Geld kommt?

      Sie: Nein. Die haben das aber bestimmt alle gewusst. Sogar die Mutter. Einmal hat sie gesagt, dass ich ihr bloß kein Kind heimbringen soll. Denn das ist das ganze Geld nicht wert. Und jetzt schau mich an. Obwohl es diesmal anders war.

      Dieses Gespräch brachte uns noch näher zusammen. Burgl schien so dankbar dafür zu sein, dass ich sie nicht verurteilte und ihr einfach nur zuhörte, dass sie mir unbedingt etwas Gutes tun wollte. Nicht körperlich. Sie überhäufte mich geradezu mit Komplimenten und sprach andauernd in ›Was-wäre-wenn‹-Sätzen: »Wenn wir nur könnten, würden wir nach Amerika durchbrennen« und »Ach, Carl, wenn ich dich nur lieben könnte …« oder »Wenn du doch nicht so für mich wärst wie ein guter Bruder«. Sie wollte sich mit dem Traum vom Mit-ihr-Zusammensein bei mir bedanken. Eigentlich hätte ich merken müssen, dass Burgl das alles nur vorgab. Ich hätte mich gleich von ihr abwenden und den Kontakt zu ihr abbrechen müssen. Um mich selbst zu schützen. Einfach ein paar Wochen nicht mehr auf die Straße gehen. Die Demütigung vermeiden. Aber das konnte der siebzehnjährige, verliebte Carl noch nicht.

      Unsere Spaziergänge gingen weiter, aber änderten sich ein wenig. Burgl wurde nun auch körperlich etwas zutraulicher. Sie legte mir zum Beispiel die Hand auf den Arm, wenn sie lachen musste. Oder sie trank ganz bewusst, mir dabei in die Augen schauend, von der Stelle am Glas, von der ich zuvor getrunken hatte. Ohne mit der Hand darüberzuwischen. In meinem Überschwang fiel mir nicht auf, dass Burgl nie über ihre Andeutungen hinausging. Ich wartete optimistisch wie nie zuvor auf den Moment, an dem sich alles ändern würde. Steter Tropfen höhlt den Stein, dachte ich. Ich gewöhnte mir eine ähnliche ›Was-wäre-wenn‹-Andeutungssprache wie Burgl an und hatte bald das Gefühl, dass sie genau wie ich wusste, worüber ich sprach und wir beide eigentlich nur noch auf den einen Moment warteten, an dem wir uns klar darüber wurden, dass wir ab jetzt weiter als Paar durch die Au laufen würden. »Lass dir alle Zeit der Welt. Ich bin da und warte, bis du so weit bist. Ich habe keine Eile.« Was für eine dumme Verblendung.

      10

      Der 12. Oktober brachte die Veränderung. Der letzte Spaziergang. Ein kalter Tag. Mal sonnig, mal wolkig. Sehr windig, aber kein Regen. Burgl hatte schon ihren Wintermantel an, aber ich musste ihr zusätzlich noch meinen Schal geben, weil sie so fror. Ihr Bauch wirkte schon so groß, als würde sie Zwillinge erwarten. Heute ist mir klar, dass sie einfach nur sehr mager war und deshalb so wirkte, als sei sie schon hochschwanger. Ich ging mit ihr in eine Konditorei in der Humboldtstraße. Normalerweise vermied sie es, mit mir in Lokale zu gehen. Ich glaube, dass es ihr peinlich war, eingeladen zu werden. Ich war nicht gerade unglücklich darüber, denn Geld hatte ich selbst kaum. Ich bestellte mir einen Kaffee und ihr eine Schokolade. Ich aß ein Ausgezogenes, Burgl zwei Stück Torte. Zwei Mark. Mein Budget für eine ganze Woche. Sie wirkte so hungrig, als habe sie seit Tagen nichts gegessen. Ich schob es auf die Schwangerschaft. Nach dem zweiten Stück bedankte sie sich so überschwänglich, dass es mir peinlich war.

      Wir saßen über zwei Stunden in der Konditorei. Es wollte aber nicht so recht ein Gespräch entstehen. Wahrscheinlich lag es am öffentlichen Ort. Als uns die Bedienung drängte, noch etwas zu bestellen, gingen wir nach draußen. Ich fragte, ob sie gerne nach Hause wolle, weil ihr so kalt sei. Sie aber sagte, dass sie lieber noch spazieren gehen würde. Wir liefen wieder in den Rosengarten und setzten uns in die windgeschützte Ecke am Haus. Langsam wirkte Burgl wieder etwas aufgewärmter. Die Torte, die Schokolade und der Spaziergang hatten ihren Kreislauf in Schwung gebracht.

      Ich: Gehts?

      Sie: Es geht wieder.

      Ich: Ich könnte sonst noch meinen Arm um dich legen. Aber wenn es jetzt wieder geht …

      Sie: Wenn ich so darüber nachdenke, ist mir doch wieder recht kalt. Schau, wie ich zittere.

      Ich: Dann rutsch her.

      Sie: Stört es dich, wenn ich meine Finger in deiner Hand aufwärme?

      Burgl erschien mir künstlich zutraulich und gar nicht so kokett, wie sie in den letzten Wochen so oft gewesen war. Nicht so, als würde sie sich zu etwas zwingen, aber so, als wüsste sie, dass dies die einzige oder letzte Gelegenheit für etwas ist.

      Sie hielt meine Hand, ich saß wie erstarrt daneben. Dann begann sie, meine Finger zu streicheln. Ich blieb weiter starr. Sie drehte sich so weit zu mir, dass ich ihren Atem riechen konnte. Ich schaute starr nach vorne. Sie legte ihre Hand auf meine Wange, drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich fest und trocken auf den Mund. Dann ließ sie mich wieder aus und streichelte meine Wange. Wieder zog sie mich zu sich, und diesmal wurde der Kuss zärtlicher und schöner.

      Aber was gerate ich in verklärte Schwärmereien? Darum soll es hier ja nicht gehen. Es kam jedenfalls zu Küssen und Zärtlichkeiten, und irgendwann nahm Burgl sogar meine Hand und legte sie auf ihren Busen. Ich glaube, dass sie an dem Nachmittag schon wusste, dass sie am nächsten Tag verschwunden sein würde. Ich jedoch merkte von all ihrer Sentimentalität und Melancholie nichts. Ich brachte sie um sieben in die Lilienstraße und war glücklich.

      Später am Abend, wieder alleine bei meinen Studienvorbereitungen, bereitete


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