Zeppelinpost. Florian Scherzer
kostet eine Semmel inzwischen neun Pfennig!
Ich: Und ein Nusshörnchen ein Zehnerl! Vor dem Krieg konnte ich für ein Zehnerl zwei kaufen.
Sie: Vielleicht tut dir das ganz gut, mal weniger von dem süßen Zeug zu essen.
Ich: Das Nusshörnchen ist der Höhepunkt meines Tages.
Sie: Das Nusshörnchen also und nicht ich.
Das war der Tag, an dem ich Burgl gegenüber mutiger und auch koketter wurde. Fast schon souverän.
Ich: Das wird sich noch zeigen. Außerdem, schau dir deinen Ranzen mal an. Da ist meiner nichts dagegen.
Sie lachte: Vielleicht wäre ich heute nicht so rund, wenn ich vor vier Monaten auch dicker gewesen wäre. Ich habe das Gefühl, dass das Kind in der letzten Woche ganz schön zugelegt hat. Das liegt an deinen Äpfeln. Voller Zucker.
Ich: Fettäpfel für ein fülliges Kind.
Sie: Wenn ich mir vorstelle, dass das Kind ja auch rauskommen muss wird mir ganz anders. Dann lieber ein Mageres. Bring mir weniger Äpfel mit.
Ich: Hör bloß auf. Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken.
So selbstbewusst, wie nach diesem Spaziergang hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Viellicht als Kleinkind im Garten in Neustadt. Aber daran erinnere ich mich natürlich nicht wirklich.
5. September 1919 – Zehnter Spaziergang
Ich war an diesem Tag sehr zuversichtlich, ihr näherzukommen. Ich hatte mich sogar extra darauf vorbereitet. Mit dem Mundwasser des Vaters gegurgelt und den Anzug ausführlicher und gründlicher gebürstet als sonst. Ich hatte mir einen neuen Kragen aus dem Schrank des Vaters gestohlen und wollte sehr darauf achtgeben, damit ich ihn später heimlich wieder zurücklegen konnte. Selbstverständlich wartete Burgl auf mich vor dem Haus, und wir gingen gleich los in Richtung Rosengarten. Wie immer.
Sie: Carl, du wirst nicht glauben, wer heute Vormittag bei uns war und den Leo abgeholt hat.
Ich: Die Polizei, wie ich deinen Bruder kenne. Die mögen die Kommunisten gerade nicht mehr so gerne wie unter dem Eisner und dem Toller.
Sie: Nein, der Grammer. Mein alter Verehrer.
Eifersucht. Ekel. Das Franz-Gefühl vom Flaucher. Wochenlang waren die alten Auer Verehrer verschwunden gewesen und ich der einzige Mann in Burgls Leben, und jetzt waren sie wieder da. Zumindest einer davon. Und ausgerechnet der Grammer. Derjenige, von dem ich mir sicher war, dass er der Vater des Kindes war.
Ich: Der ist doch beim Augustiner in der Lehre. Oder ist er schon fertig.
Sie: Schon fertig. Der hat schon mit sechzehn damit angefangen. Dem geht es richtig gut. Er hat eine Dienstwohnung in der Bergmannstraße. Zwei Zimmer. Neubau. Mit Bad und Abort. Das musst du dir mal vorstellen. Wenn man weiß, wo die Grammers bisher wohnen. Zu zehnt hinten am Herrgottseck. Jetzt zu neunt ohne unseren Grammer.
Ich: Will er dich zurückhaben, oder was?
Sie: Du Depp. Er ist verlobt, und sie zieht nach der Hochzeit im Oktober bei ihm ein. Eine vom Ostfriedhof. Eine der Töchter vom Steinmetz.
Ich: Ist er immer noch so gut aussehend?
Sie: Der Haustrunk in der Brauerei bekommt ihm nicht besonders gut. Ganz schön aufgeschwemmt und versoffen sieht er aus, der Grammer.
Ich: Wie lange hast du eigentlich was mit dem Grammer gehabt? Und mit dem Kellerer? Und den anderen.
Sie: Das kann ich dir nicht sagen.
Ich: Weil du es nicht mehr weißt?
Sie: Weil die Umstände anders waren, als du denkst.
Ich: Weil du ein Flietscherl warst?
Sie: Spinnst du? So was sagt man nicht zu einer Schwangeren.
Ich: Sagt man so was nicht gerade zu einer ledigen Schwangeren?
Sie: Es war anders als du denkst.
Ich: Ich kann es mir schon denken.
Sie: Nichts kannst du dir denken.
Bei den folgenden Spaziergängen war erst mal die Intimität weg. Wir sprachen zwar auch weiterhin über Persönliches. Aber mehr über die Familienverhältnisse, meine seltsamen Eltern, ihren brutalen Vater und seine immer schlimmer werdende Sauferei. Oder ihre sechs übrigen Brüder, die nicht im Krieg geblieben sind. Sie waren halb auf Seiten der Räterepublik, halb auf Seiten der Freikorps und prügelten sich seit dem Ende der Eisner-Regierung und der neuen Verfassung noch mehr. Sie erzählte, dass drei Brüder bei den Völkischen von der DAP mitmachten, die anderen drei bei den Kommunisten. Auf der Straße schlugen sie sich, daheim mussten sie an einem Tisch sitzen und dem Vater, der immer noch Monarchist war, zuhören und so tun als würden sie ihm zustimmen. Erst eine Woche oder fünf Spaziergänge später, kamen wir wieder langsam auf intimere Dinge zu sprechen.
13. September 1919 – Neunzehnter oder Zwanzigster Spaziergang
Es war noch mal ein richtiger Sommertag. Heiß und stickig. Ich überredete Burgl, mit der Trambahn ins Bad Maria Einsiedel nach Thalkirchen zu fahren. Am 20. September schloss es, und seit dem 1. September kostete es nur noch fünf Pfennige Eintritt. Weil schon fast Herbst war. Mit so warmem Wetter hatten sie nicht mehr gerechnet. Burgl sah trotz Schwangerschaft in ihrem Badeanzug sehr gut aus. Ich hatte gehofft, noch etwas mehr von ihr zu sehen zu bekommen, aber Burgl hatte keinen der neumodischen engen und kurzen Badeanzüge, sondern nur einen mindestens zwanzig Jahre alten, den sie irgendwo beim Trödler aufgetrieben hatte. Aber zumindest ihre Beine konnte man etwas mehr sehen als sonst. Ich mit meinem fetten Ranzen war froh, auch einen altmodischen, nicht zu engen Badeanzug zu haben. Wir schwammen etwas. Das Isarwasser war doch schon sehr frisch. Burgl setzte sich auf die Decke, die sie dabeihatte, und ich kaufte uns eine Russenmaß am Stehausschank.
Sie: Ich soll kein Bier trinken.
Ich: Das ist nur ein Russ. Gegen den Durst. Und Bier gibt dir und dem Kind Kraft. Das ist bekannt. Ich habe als Kleinkind nur mit einem Bierdiezl schlafen können. Deshalb bin ich so kräftig.
Sie: Ob mein Kind so kräftig wie du werden soll? Aber ein Schluck kann nicht schaden
Mir war bis eben nicht bewusst, dass mein Dicksein ein
ständiges Thema bei unseren Gesprächen war. Burgl kam immer wieder darauf zu sprechen. Ich hätte mich damals viel mehr darüber ärgern müssen.
Sie: Am Busen kann ich schon ruhig noch ein wenig zulegen, oder was meinst du?
Diesen Satz trage ich noch heute als Souvenir in mir herum. Verboten, schockierend und gleichzeitig erregend. Dieser Satz machte aus Burgls Busen, der kurz davor noch Franz gehört hatte, wieder meinen. So hatte noch nie jemand mit mir gesprochen. Ich wusste natürlich, wie Kinder entstehen und wie Frauen anatomisch aufgebaut sind. Besser als die Straßenbuben, die schon mit Mädchen intim gewesen waren. Meine fürsorgliche Mutter hatte mich gründlich aufgeklärt. Mithilfe von selbst gemachten Zeichnungen. Einer der unangenehmsten Momente meiner Kindheit. Aber direkt, von Angesicht zu Angesicht, von einer Frau zu hören, wie sie über einen ihrer von mir so begehrten Körperteile sprach, war etwas Neues. Furcht einflößend, aber schön. Ich weiß noch, wie trocken mein Mund war und wie sehr ich darauf achten musste, dass meine Stimme nicht brach. Das ist hier in meinen Schulheftaufzeichnungen kaum zu spüren. Wenn man nur den Dialog liest, wirkt mein damaliges Ich fast abgebrüht und souverän.
Ich: Mir gefällt er gut, so wie er ist.
Sie: Dann bin ich ja beruhigt.
Wir schwiegen beide. Ich trank den Russen aus und brachte das Glas zurück zum Kiosk. Als ich zurückkam, weinte Burgl.
Ich: Ist dir nicht gut?
Sie: Ich muss nur wieder an was denken.
Ich: Erzähl.
Sie: Ich kann es nicht.
Ich: Mir kannst du es schon sagen.
Sie: An die Sache