Hungern für die Liebe. Cassandra Light
Okay, am Mittwoch habe ich es eingesehen, aber jetzt sehe ich das schon wieder nicht. Ich bin nicht krank!
Ich will mir ja Mühe geben, aber irgendwie bekomme ich, wenn ich essen muss, immer schlechte Laune. Und auch so bekomme ich schnell schlechte Laune.
Das geht mir alles so auf den Keks. Ich weiß nicht, was das ist, aber eine Essstörung habe ich nun wirklich noch nicht. Mutti setzt mich so unter Druck. Da kann man auch schlechte Laune bekommen.
Ich glaube, die sollten mich einfach in Ruhe lassen, vielleicht wird es dann besser. Ich fühle mich auch so beobachtet und alle fragen so viel und schreiben mir alles vor. Zum Beispiel, was ich essen soll – dass ich keine Margarine nehmen darf, sondern Butter nehmen muss.
Ich wünschte, es wäre alles nicht so schwer. Ich will nicht immer schlecht gelaunt sein und ich will nicht so bedrängt werden. Das nervt total. Ich hoffe, ich bekomme das in den Griff mit der Laune. Ich hoffe auch, nachher beim Einkaufen nicht wütend zu werden. Das kenne ich gar nicht von mir, aber wenn es um Essen geht, dann passiert das so.
Dienstag, der 10.10.2000
Ich habe nicht viel Zeit, jetzt einzuschreiben. Ich muss noch duschen, Abendbrot essen und dann wieder pauken. Physik, Chemie und Musik zu morgen.
Wir hatten heute Sportfest. Es war eiskalt. Ich habe gedacht, ich sterbe. Alles tat mir weh vor Kälte, und dann mussten wir noch kurze Sachen anziehen. Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.
Um 17.00 Uhr bin ich vom Konfirmationsunterricht gekommen.
Kaum bin ich hier, habe ich wieder Ärger mit Mutti gehabt – wegen Essen. Sie war nahe daran, mir eine zu knallen. Ich schätze, die Woche und nachher das Abendbrot wird die Hölle werden. Die ganze Woche nur Arbeiten in der Schule und Ärger mit Mutti und Vati wegen Essen.
Liebes Tagebuch, wünsche mir Glück!
Mittwoch, der 18.10.2000
Ich habe heute einen anstrengenden Tag gehabt. Auch so war die ganze Woche bis jetzt sehr anstrengend und es ist noch kein Ende zu sehen.
Heute haben wir Physik und Chemie wiederbekommen. In Physik habe ich eine 2 und in Chemie eine 1. Wir haben in dieser Woche bis jetzt nur Arbeiten geschrieben. Ich weiß schon gar nicht mehr, welche ich zurückbekommen werde. Außerdem kann ich langsam nicht mehr.
Dienstag haben wir Chemie und Russisch geschrieben, wobei wir Freitag erst die letzten Arbeiten bekommen haben. Da waren ja nur das Wochenende und der Montag zwischen. Weil nur ein Tag dazwischen lag, war ich gar nicht darauf gefasst, wieder eine Arbeit zu schreiben. In Russisch habe ich leider nicht alles gewusst. Morgen bekomme ich die Arbeit in Russisch wieder und in Englisch und Mathe schreiben wir.
Wenn ich Zeit habe, schreibe ich wieder mehr ein.
Mein Wochenende ist aber auch komplett voll.
Nächste Woche stehen schon drei Arbeiten fest: Montag Russisch Klassenarbeit, Dienstag Biologie und Freitag Englisch Klassenarbeit.
So, ich mache jetzt Schluss. Ich brauche eine Pause. Dann geht es weiter. Anschließend dann wieder Stress mit Mutti und Vati wegen Abendbrot essen, dann wieder lernen und dann ins Bett.
Irgendwer da draußen: Wünscht mir einfach nur Glück, dann bin ich beruhigter.
Ich bat irgendjemanden, wahrscheinlich Gott, mir Glück zu wünschen.
Glück – doch was hieß denn Glück in dem Moment?
Das Glück war, den Ärger zu umgehen, Ruhe zu haben und gleichzeitig nicht essen zu müssen. Ohne Essen davonzukommen.
Am liebsten würde ich nie hier gewesen sein und nicht leben.
Na ja, leider nicht zu ändern.
Der Wunsch, von dieser Welt gehen zu wollen, wurde von Tag zu Tag stärker. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich jeden Tag mehr spürte, wie schwach ich körperlich wurde. Das Herz schlug langsamer.
Dieser schleppende Herzschlag war spürbar. Es fühlte sich anstrengend an. Anstrengung, die das Herz aufbringen musste, um zu schlagen. Das Herz hatte im wahrsten Sinne des Wortes zu kämpfen.
Das Herz wurde langsamer und langsamer. Es ging in Richtung Stillstand. Mit der schrittweisen Verabschiedung des Herzens wuchs mein Wille, nicht mehr zu leben, von Tag zu Tag mehr. Der Wille, das, was am Leben hält, zu verweigern. Nahrung. Wuchs.
Donnerstag, der 19.10.2000
Wir haben heute die Arbeit in Mathe geschrieben.
Ich habe heute meine Schulstullen nicht gegessen.
Ich kann nur jetzt nicht so viel schreiben, muss noch lernen, Abendbrot usw.
Zusätzlich als Plus: Natürlich wieder Zoff mit Mutti und Vati, davon bekomme ich ja jeden Tag genug. Du weißt ja …
Sonntag, der 29.10.2000
Eben habe ich Abendbrot gegessen – könnte schon wieder richtig sauer werden, aber lieber nicht, sonst fange ich noch an zu heulen.
Noch heute bin ich ein Genie in Sachen Unterdrücken, und wenn in mir Wut hochkommt, neige ich dazu, sie wegdrücken zu wollen. Doch inzwischen weiß ich, woher sie kommt und dass ich mir jahrelang antrainiert habe, Gefühle wie eben Wut oder aber Traurigkeit nicht fließen zu lassen.
Aus meiner Sicht sollte es Weinen nicht geben. Wozu auch?
Wenn ich im Normalzustand – also dann, wenn alles funktionierte, wie es sollte – schon »zu viel« war. Dann ging ja Weinen überhaupt nicht.
Darüber hinaus war niemand da, der mich verstand und mich in den Arm genommen hätte. Dementsprechend suchte ich nach einem anderen Weg für mich: Gefühle unterdrücken und einfach funktionieren. Keine Rücksicht auf mich selbst. Alles andere war fehl am Platze – so meine Erfahrung zu diesem Zeitpunkt.
Morgen wollen Marleen und ich mit Oma bummeln gehen. Vorher muss ich aber noch mit Mutter zur Ärztin fahren. Ich muss Blut abnehmen lassen. Vielleicht wiegt mich ja die Ärztin wieder. Scheißegal!
Ich lese jetzt ein bisschen und dann gehe ich schnell ins Bett. Gelernt habe ich schon.
An diesem Abend lag ich im Bett und mein Herz schlug so langsam. Es fühlte sich an, als müsste es sich unglaublich anstrengen, um zu schlagen. Ich quälte mich und selbst das Liegen empfand ich als anstrengend.
Ich konnte kaum noch richtig schlafen. Ich merkte, es würde bald zu Ende gehen und mein Herz würde für immer stehen bleiben. Ich dachte, dass ich von dem Moment an frei wäre. Ich hätte keine Qualen mehr auszustehen und es gäbe keinen Kampf mehr. Nicht den Kampf gegen mein Leben, und auch nicht jenen, den ich sowieso schon längst aufgegeben hatte: den Kampf um Liebe.
Wenn mein Herz stehen bliebe, hätte endlich das Kämpfen ein Ende.
Meine Tage waren geprägt von Leistungsdruck, von Stress, Streit und den Gedanken, die sich um das Ende meines Lebens drehten.
Ein ständiger Kampf.
Nur der Wille trieb mich voran.
Mein Umfeld reagierte erst sehr spät auf meine Veränderungen. Aus heutiger Sicht viel zu spät. Ich frage mich manchmal: Hat es niemand gesehen, dass ich dünner und dünner wurde? Erst als ich dem Tod näher war als dem Leben, wurde mein Erscheinungsbild angesprochen. Das macht erschreckenderweise sehr deutlich, dass kaum jemand auf mich achtete und ich einfach »zu viel« war. Und wie vielen Menschen geht das so?
Noch heute berührt mich diese »Blindheit«, weshalb mir so viel daran